Das Stigma rund um mentale Gesundheit am Arbeitsplatz schwindet langsam und macht einem neuen Fokus Platz: «Mentale Fitness». Sie ist, genau wie körperliche Fitness, etwas, das wir aktiv entwickeln und erhalten können, schreibt Patricia Ordody in ihrem Essay für finews.first.
In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.
In der Geschäftswelt verdrehen viele die Augen, wenn sie den Begriff «mentale Gesundheit» hören – vielleicht, weil er im beruflichen Kontext als irrelevant angesehen wird oder, wahrscheinlicher, weil er ein Stigma trägt, dem man lieber aus dem Weg geht.
Doch gerade heute, wo persönliche und berufliche Leben enger miteinander verflochten sind als je zuvor und wir mehr Zeit mit Kollegen als mit unseren Liebsten verbringen, brauchen wir eine neue Art, über unser mentales Wohlbefinden nachzudenken und zu sprechen – nicht als etwas Separates, sondern als einen integralen Bestandteil unserer Gesundheit.
«Das ist eine anspruchsvolle Definition»
Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist mentale Gesundheit «ein Zustand des psychischen Wohlbefindens, der es den Menschen ermöglicht, mit den Belastungen des Lebens umzugehen, ihre Fähigkeiten zu erkennen, gut zu lernen und zu arbeiten und einen Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten.»
Das ist eine anspruchsvolle Definition – sie umfasst viele innere Aspekte sowie Erwartungen von aussen. Darüber hinaus definiert die WHO Gesundheit als «einen Zustand vollständigen körperlichen, mentalen und sozialen Wohlbefindens». Doch die letzten beiden Aspekte dieser Definition werden oft ignoriert oder mit Tabus belegt.
Wenn wir über körperliches Wohlbefinden sprechen, sieht sich der Mensch im Allgemeinen nicht als entweder gesund oder krank, es sei denn, eine Krankheit, ein Virus oder eine Infektion liegt vor. Wir sprechen von körperlicher Fitness, erkennen an, dass wir gute und schlechte Trainingstage haben, verstehen, dass unsere Kraft und Ausdauer aufgrund vieler Variablen schwanken, und akzeptieren, dass die Erhaltung unserer physischen Verfassung fortlaufende Anstrengungen erfordert.
«Probleme entstehen, wenn wir aufeinanderfolgend schlechte Tage erleben»
Warum behandeln wir unser psychisches Wohlbefinden also als absoluten Zustand? Entweder man ist mental gesund oder nicht – in vielen Umgebungen, besonders im beruflichen Kontext, trägt das Eingeständnis von weniger als perfekter mentaler Gesundheit weiterhin ein Stigma.
Genau wie wir gute und schlechte Tage im Fitnessstudio haben, schwankt unser mentaler Zustand auf natürliche Weise. An manchen Tagen sind wir scharfsinnig, fokussiert und resilient; an anderen Tagen kämpfen wir mit Konzentrationsproblemen und Stress aufgrund von familiären, persönlichen, sozialen, physischen, geopolitischen oder wirtschaftlichen Herausforderungen, Nachrichten und Einflüssen. Das ist kein Zeichen von Schwäche oder Krankheit – es ist einfach Teil des Daseins.
Probleme entstehen, wenn wir aufeinanderfolgende schlechte oder sich verschlechternde Tage erleben, oder wenn wir über einen längeren Zeitraum hinweg verschweigen, dass wir uns belastet, ängstlich, traurig oder erschöpft fühlen, und still leiden. Unser mentaler Zustand beeinflusst, wie wir denken, fühlen, handeln und Entscheidungen treffen, und betrifft uns und unser Umfeld weit mehr als unser körperliches Wohlbefinden.
Mentale Fitness ist, genau wie körperliche Fitness, etwas, das wir aktiv entwickeln und erhalten können. Nichts im Leben ist kostenlos – es erfordert regelmässige Praxis, bewusste Anstrengung, die richtigen Werkzeuge und manchmal professionelle Unterstützung.
«Das Gehirn ist wie ein Muskel»
Neurowissenschaftliche Forschung unterstützt zunehmend das Konzept der Neuroplastizität, also der Fähigkeit unseres Gehirns, sich ein Leben lang zu verändern und anzupassen. «Das Gehirn ist wie ein Muskel; je mehr wir es trainieren, desto stärker wird es», erklärt Dr. Michael Merzenich, ein Pionier in der Gehirnplastizität.
Er fügt hinzu, dass die Gehirnfunktion durch das Erlernen neuer Dinge, gute Ernährung, Bewegung und liebevolle Beziehungen verbessert werden kann, unter anderem: «Wenn Ihr Gehirn richtig funktioniert, funktionieren Sie insgesamt richtig.»
Dr. Bruce Lipton, ein renommierter Zellbiologe und Autor, hat unser Verständnis der Verbindung zwischen Geist und Körper und die Rolle des Bewusstseins für Gesundheit und Wohlbefinden durch seine bahnbrechende Forschung in der Epigenetik revolutioniert: «Ihre DNA ist nicht Ihr Schicksal. Ihre Überzeugungen und Wahrnehmungen können Ihre Gene übersteuern.» Genau deshalb ist der Geist über der Materie entscheidend.
«Im Durchschnitt haben wir mehr als 6’000 Gedanken pro Tag»
Eine der stärksten Erkenntnisse der modernen Psychologie ist das Verständnis von Emotionen als «Energie in Bewegung». Im Durchschnitt haben wir mehr als 6’000 Gedanken pro Tag, und jeder löst eine emotionale Reaktion aus, die unsere Gedanken und daraus resultierenden Gefühle antreibt und damit unser Verhalten beeinflusst.
Dies schafft, was Psychologen das kognitive Dreieck nennen – die Beziehung zwischen Gedanken, Gefühlen und Handlungen. Die entscheidende Erkenntnis hier ist, dass wir durch das Erkennen des initialen emotionalen Auslösers in diesem Zyklus intervenieren können, um ein positiveres Ergebnis zu erzielen. Warum investieren wir nicht mehr Zeit in die Ursachen – Emotionen, Gedanken und Gefühle – und Milliarden in die Behandlung der Symptome wie Burnout, Depression, Fehlzeiten, Schlaflosigkeit und Angst?
«Unternehmen müssen über oberflächliche Wellness-Initiativen hinausgehen»
Der Wandel von «mentaler Gesundheit» zu «mentaler Fitness» ist nicht nur semantisch – er stellt einen grundlegenden Kulturwandel in der Arbeitswelt dar, in dem Schwankungen, Herausforderungen und die Entwicklung des psychischen Wohlbefindens normalisiert werden müssen. Es geht nicht nur darum, Burnout vorzubeugen und Stress zu bewältigen, sondern auch darum, anzuerkennen, dass unser psychisches Wohlbefinden direkt Team-Dynamiken, Entscheidungsfindung und letztlich den Erfolg der Organisation beeinflusst.
Unternehmen müssen über oberflächliche Wellness-Initiativen hinausgehen und Umgebungen fördern, in denen es genauso natürlich ist, über mentale Fitness zu sprechen, wie eine Gymnastikstunde zu planen. Die Zukunft der Arbeit erfordert Führungskräfte, die verstehen, dass Höchstleistungen sowohl aus körperlicher als auch aus mentaler Fitness resultieren – und diese Reise beginnt damit, wie wir heute darüber sprechen.
Patricia Ordody ist Private Bankerin und Coach mit fast zwei Jahrzehnten Erfahrung in der Finanzbranche. Als Teamleiterin bei einer führenden Privatbank und Gründerin von «Health is Wealth» in Zürich verbindet sie ihre Expertise in der Vermögensverwaltung und Strategie mit ihrer Leidenschaft für Executive- und Gesundheitscoaching. Darüber hinaus setzt sie sich durch Impulsvorträge, Podiumsdiskussionen und Moderationen für das Bewusstsein über mentale Gesundheit in der Branche ein.
Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Rolf Banz, Werner Vogt, Walter Wittmann, Alfred Mettler, Robert Holzach, Craig Murray, David Zollinger, Arthur Bolliger, Beat Kappeler, Chris Rowe, Stefan Gerlach, Nuno Fernandes, Richard Egger, Dieter Ruloff, Marco Bargel, Steve Hanke, Urs Schoettli, Maurice Pedergnana, Stefan Kreuzkamp, Oliver Bussmann, Michael Benz, Albert Steck, Martin Dahinden, Thomas Fedier, Alfred Mettler, Brigitte Strebel, Mirjam Staub-Bisang, Kim Iskyan, Stephen Dover, Denise Kenyon-Rouvinez, Christian Dreyer, Kinan Khadam-Al-Jame, Robert Hemmi, Anton Affentranger, Yves Mirabaud, Hans-Martin Kraus, Gérard Guerdat, Mario Bassi, Stephen Thariyan, Dan Steinbock, Rino Borini, Bert Flossbach, Michael Hasenstab, Guido Schilling, Werner E. Rutsch, Dorte Bech Vizard, Maya Bhandari, Jean Tirole, Hans Jakob Roth, Marco Martinelli, Thomas Sutter, Tom King, Werner Peyer, Thomas Kupfer, Peter Kurer, Arturo Bris, Frédéric Papp, James Syme, Dennis Larsen, Bernd Kramer, Armin Jans, Nicolas Roth, Hans Ulrich Jost, Patrick Hunger, Fabrizio Quirighetti, Claire Shaw, Peter Fanconi, Alex Wolf, Dan Steinbock, Patrick Scheurle, Sandro Occhilupo, Will Ballard, Nicholas Yeo, Claude-Alain Margelisch, Jean-François Hirschel, Jens Pongratz, Samuel Gerber, Philipp Weckherlin, Anne Richards, Antoni Trenchev, Benoit Barbereau, Pascal R. Bersier, Shaul Lifshitz, Ana Botín, Martin Gilbert, Jesper Koll, Ingo Rauser, Carlo Capaul, Markus Winkler, Thomas Steinemann, Christina Böck, Guillaume Compeyron, Miro Zivkovic, Alexander F. Wagner, Eric Heymann, Christoph Sax, Felix Brem, Jochen Möbert, Ursula Finsterwald, Michel Longhini, Stefan Blum, Nicolas Ramelet, Søren Bjønness, Gilles Prince, Shanu Hinduja, Salman Ahmed, Peter van der Welle, Ken Orchard, Christian Gast, Jürgen Braunstein, Jeffrey Vögeli, Fiona Frick, Stefan Schneider, Matthias Hunn, Andreas Vetsch, Mark Hawtin, Fabiana Fedeli, Kim Fournais, Carole Millet, Swetha Ramachandran, Thomas Stucki, Neil Shearing, Tom Naratil, Oliver Berger, Robert Sharps, Tobias Müller, Florian Wicki, Jean Keller, Niels Lan Doky, Johnny El Hachem, Judith Basad, Katharina Bart, Thorsten Polleit, Peter Schmid, Karam Hinduja, Zsolt Kohalmi, Raphaël Surber, Santosh Brivio, Mark Urquhart, Bruno Capone, Peter Hody, Agniszka Walorska, Thomas Müller, Ebrahim Attarzadeh, Marcel Hostettler, Hui Zhang, Angela Agostini, Guy de Blonay, Tatjana Greil Castro, Jean-Baptiste Berthon, Dietrich Grönemeyer, Mobeen Tahir, Didier Saint-Georges, Serge Tabachnik, Vega Ibanez, David Folkerts-Landau, Michael Welti, Mihkel Vitsur, Roman Balzan, Todd Saligman, Stuart Dunbar, Carina Schaurte, Birte Orth-Freese, Gun Woo, Lamara von Albertini, Ramon Vogt, Andrea Hoffmann, Niccolò Garzelli, Darren Williams, Benjamin Böhner, Mike Judith, Jared Cook, Henk Grootveld, Roman Gaus, Nicolas Faller, Anna Stünzi, Thomas Höhne-Sparborth, Fabrizio Pagani, Guy de Blonay, Jan Boudewijns, Sean Hagerty, Alina Donets, Sébastien Galy, Roman von Ah, Fernando Fernández, Georg von Wyss, Stefan Bannwart, Andreas Britt, Frédéric Leroux, Nick Platjouw, Rolando Grandi, Philipp Kaupke, Gérard Piasko, Brad Slingerlend, Dieter Wermuth, Grégoire Bordier, Gianluca Gerosa, Michael Bornhäusser, Christine Houston, Manuel Romera Robles, Fabian Käslin, Claudia Kraaz, Marco Huwiler, Lukas Zihlmann, Sherif Mamdouh, Harald Preissler, Taimur Hyat, Philipp Cottier, Andreas Herrmann, Camille Vial, Marcus Hüttinger, Serge Beck, Alannah Beer, Stéphane Monier, Ashley Semmens, Lars Jaeger, Shanna Strauss-Frank, Bertrand Binggeli, Marionna Wegenstein, George Muzinich, Jian Shi Cortesi, Razan Nasser, Nicolas Forest, Jörg Rütschi, Reto Jauch, Bernardo Brunschwiler, Charles-Henry Monchau, Nicolas Ramelet, Ha Duong, Teodoro Cocca, Jan Brzezek, Nicolas Mousset, Beat Weiss, Pascal Mischler, Andrew Isbester, Konrad Hummler, Jan Beckers, Martin Velten, Katharine Neiss, Claude Baumann, Daniel Roarty, Kubilaqy Yalcin, Robert Almeida, Karin M. Klossek, Marc Taverner, Charlie T. Munger, Daniel Kobler, Patrick Stauber, Anna Rosenberg, Judith Wallenstein, Adriano Lucatelli, Daniel Goleman, Val Olson, Brice Prunas, Frances Weir, Luis Maldonado, Francesco Magistra, Nadège Lesueur-Pène, Massimo Pedrazzini, Eric Sarasin, Dina Ting, Christopher Gannatti, Shaniel Ramjee, Mihkel Vitsur, Nannette Hechler-Fayd'herbe, Ralph Ebert, Mark Denham, Francesco Mandalà, Mariolina Esposito, Maryann Umoren Selfe, Dominique Gerster, Christian Kälin, Nadège Dufossé, Benjamin Melman, Brigitte Kaps, Florin Baeriswyl, Marc Reinhardt, Thomas Holderegger, Bruno Cavalier, Gary Burnison, Louise Curran, Adrian Cox, Philip Adler, Serge Fehr, Marc Lussy, Axel Brosey, Colin Vidal, Vivien Jain, Ralf Zellweger, Maria Vassalou, Nico Fiore, Gary Burnison, Thomas Signer, Brigitte Kaps, Andreas Ita, Leon Curti, Remo Badertscher, Alexis Marinof, Olivier Kessler, Beat Wittmann. und Jacques Aurélien Marcireau.