Die jüngsten Annäherungen zwischen Brüssel und Peking deuten wachsende gemeinsame Interessen an – und gleichzeitig eine Schwächung der Allianz zwischen den USA und Europa, schreibt Dan Steinbock.


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. Die Auswahl der Texte liegt bei finews.ch.


Am Tag nach den Terrorattacken vom 11. September 2001 titelte die französische Tageszeitung «Le Monde»: «Wir sind alle Amerikaner». Doch die europäische Anteilnahme am amerikanischen Leiden endete rasch, als das US-Militär zu einem internationalen Rachefeldzug in Afghanistan, im Irak sowie in anderen Regionen der Welt überging.

Als Folge resultierte ein tiefer transatlantischer Graben, der aufgrund der Auslandspolitik des damaligen US-Präsidenten George W. Bush bloss noch grösser wurde. Heute empfinden viele Menschen ein Gefühl des «Déjà-vu».

«Es folgte ein Aufschrei der Entrüstung»

Kürzlich, US-Präsident Donald Trump hatte Europa gerade verlassen, um in seiner Heimat das Russland-Problem anzugehen, verkündete die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass Trumps Amerika nicht länger ein verlässlicher Verbündeter sei. Es folgte ein Aufschrei der Entrüstung, und viele politische Kommentatoren warnten vor einer epochalen Beeinträchtigung der transatlantischen Beziehungen. Währenddessen plädierte der chinesische Premierminister Li Keqiang auf seiner Deutschland-Reise für verstärkte, gemeinsame Anstrengungen, die Globalisierung zu fördern.

Unter diesen Prämissen folgte eine Annäherung zwischen China und Europa, was sich dann bald im Bündnis in Sachen Klimawandel respektive dem Paris Abkommen manifestierte, aus dem Trump bekanntlich ausscherte. In einem Statement von EU-Ratspräsident Donald Tusk, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Chinas Premierminister Li, bekannten sich die beiden Gruppen zur vollständigen Umsetzung dieser Vereinbarung.

«Brüssel teilt nicht die strategischen Interessen der USA»

Umgekehrt kam in den USA angesichts dieser Entwicklungen einige Sorge auf, welche die «New York Times» sehr düster mit der Schlagzeile «China sieht eine wachsende Kluft zwischen Trump und Deutschland» ausformulierte. Nicht ganz überraschend führte die Zeitung das drohende politische Vakuum auf Trump zurück. Doch in Tat und Wahrheit entwickelten sich die Beziehungen zwischen Brüssel und Peking seit den 1990er-Jahren stetig, selbst als wiederum die Beziehungen zwischen den USA und China zeitweilig unter Druck gerieten.

Wie die USA, vertritt auch die EU die einzigartigen Werte und Interessen des Westens, Aber im Gegensatz zu Washington, findet man in Brüssel nicht, dass Europa als «strahlendes Vorbild» für den Rest der Welt gelten sollte. Brüssel teilt nicht die strategischen Interessen der USA, militärisch überlegen zu sein. Europa hat in der Vergangenheit zwar mehrmals das sozusagen messianische US-Regime unterstützt, aber zumeist mit kostspieligen politischen Konsequenzen.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist China für beide, die USA und die EU ein wichtiger Handelspartner geworden. Im Güterhandel weisen die beiden westlichen Mächte ein signifikantes Defizit gegenüber China. Und in beiden Fällen belaufen sich die chinesischen Einfuhren auf Hunderte von Milliarden Dollars. Wobei das US-Defizit fast zweimal so hoch ist wie dasjenige zwischen der EU und China. Obschon China zu einer der am schnellsten wachsenden Zieldestinationen für den US-Export avanciert ist, führen die EU-Firmen fast zweimal mehr nach China aus als amerikanische Konzerne.

«Sino-europäische Innovationen noch einen riesigen Auftrieb erhalten»

Diese Trends stechen noch mehr hervor, wenn man seinen Blick von der EU auf einzelne Mitgliedstaaten richtet: In der Nachkriegszeit, als die USA für eine kurze Zeit fast die Hälfte der Weltwirtschaft dominierten, waren die Amerikaner auch die führenden Exporteure. Doch mit dem Eintritt Chinas im Welthandel, was mit der Aufnahme des Reichs der Mitte in der Welthandelsorganisation (WTO) vor 16 Jahren zusammenfällt, hat sich diese Situation drastisch verändert.

Das zeigt sich etwa in den Handelsbeziehungen einzelner EU-Länder mit den USA und China. Zwar exportieren die acht grössten EU-Staaten insgesamt noch immer mehr in die USA als nach China, aber in verschiedenen Ländern ist der Handel mit China höchst ausgeglichen, etwa in Deutschland oder Frankreich, wo sich Ein- und Ausfuhren die Waage halten. Aber auch Spanien, Holland oder Schweden und Polen weisen eine vergleichbare Entwicklung auf.

Ohne Zweifel werden die sino-europäischen Handelsbeziehungen in den nächsten Jahren noch signifikant wachsen, wie auch die Auslandsinvestitionen – gerade vor dem Hintergrund, dass sich das Reich der Mitte von einem reinen Export- und Investitionsland zielstrebig zu einem Innovations- und Konsummarkt wandelt. Europäische Technologieunternehmen wie auch europäische Markengüter dürften enorm an Bedeutung gewinnen, und sino-europäische Innovationen noch einen riesigen Auftrieb erhalten.

«Europäische und chinesische Politiker betrachten die USA als globales Risiko»

In der Ära von Präsident George W. Bush divergierten die Interessen der USA und Europa bereits stark, insbesondere was die sicherheitspolitischen Ansichten anging. Und heute sind die aus den USA stammenden Forderungen nach der Aufkündigung von internationalen Abkommen und Verträge wie zusätzliches Öl in ein loderndes Feuer, gerade was das Thema Klimawandel anbelangt. Das kommt auch in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Pew zum Ausdruck, wonach seit dem Antritt von Donald Trump das Image USA in der Welt bereits dramatisch gelitten hat.

In Wirklichkeit reicht diese schwindende Begeisterung für Amerika aber viel weiter zurück. Galten die USA nach dem Zweiten Weltkriegs nach als grosse Verfechter von Internationalismus und Freihandel, so nahmen bereits nach dem Ende des Kalten Krieges Nationalismus und Neo-Protektionismus einen immer breiteren Raum ein.

So gesehen war Trumps Wahltriumph im vergangenen Jahr nur eine Fortsetzung dieses Trends, den er selber gar nicht ausgelöst hatte. Die Abkehr von den einstigen Freiheitswerten tauchte bereits nach dem Vietnamkrieg auf, aber auch später nach den Attacken vom 11. September oder während des Irak-Kriegs auf, und haben sich seither intensiviert. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass europäische und chinesische Politiker die USA als ein wachendes globales Risiko betrachten.

Obschon die transatlantischen Beziehungen auf gemeinsamen Ursprungswerten beruhen, driften sie heute tatsächlich auseinander, während die Interessen Chinas und der EU zunehmend konvergieren. Dies auch angesichts der Tatsache, dass Peking ein vitales Interesse daran hat, die eigenen Marktinteressen in der globalen Wirtschaft zu verankern sowie klimatische Veränderungen durchzusetzen. Beides lässt die EU und China noch stärker zusammenrücken – mehr als Brüssel und Washington. Doch das alles Trump zuzuschreiben, ist falsch, diese geradezu historische Aufspaltung reicht weit in die Zeit von US-Präsident Ronald Reagan zurück.


 

Dan Steinbock ist Gründer der Difference Group und hat als Forscher am India, China and America Institute (USA) gearbeitet und war als Visiting Fellow an den Shanghai Institutes for International Studies (China) sowie am EU Centre (Singapore) tätig. Eine längere Version dieses Texts erschien in «China US Focus».


Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Oliver Berger, Rolf Banz, Samuel Gerber, Werner Vogt, Walter Wittmann, Alfred Mettler, Robert Holzach, Craig Murray, David Zollinger, Arthur Bolliger, Beat Kappeler, Chris Rowe, Stefan Gerlach, Marc Lussy, Samuel Gerber, Nuno Fernandes, Beat Wittmann, Richard Egger, Dieter Ruloff, Marco Bargel, Steve Hanke, Urs Schoettli, Maurice Pedergnana, Stefan Kreuzkamp, Oliver Bussmann, Michael Benz, Albert Steck, Andreas Britt, Martin Dahinden, Thomas Fedier, Alfred Mettler, Brigitte Strebel, Peter Hody, Mirjam Staub-Bisang, Guido Schilling, Adriano Lucatelli, Nicolas Roth, Thorsten Polleit, Kim Iskyan, Dan Steinbock, Stephen Dover, Denise Kenyon-Rouvinez, Christian Dreyer, Peter Kurer, Kinan Khadam-Al-Jame, Werner E. Rutsch, Robert Hemmi, Claude Baumann, Anton Affentranger, Yves Mirabaud, Katharina Bart, Frédéric Papp, Hans-Martin Kraus, Gérard Guerdat, Didier Saint-Georges, Mario Bassi und Stephen Thariyan.