Die Zukunft Europas ist weiter offen, insbesondere was die Wirtschafts- und Währungsunion betrifft, kommt Fabrizio Pagani in seinem Beitrag für finews.first zum Schluss.
In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen
Die Regierungsbildung in Deutschland gewinnt in diesem Jahr nicht nur durch den Wechsel an der Spitze des Bundeskanzleramtes besondere Bedeutung. Die politischen Gespräche in Berlin im Anschluss an die Bundestagswahl Ende September fanden zu einem Zeitpunkt statt, an dem sich auch die EU grundlegend umgestaltet.
Dieser Wandel hat jedoch noch keine endgültige Form oder eine einheitliche Richtung angenommen. Vieles wird von den Beschlüssen in den kommenden Monaten abhängen, und die neue deutsche Regierung wird bei diesen Entscheidungen ein erhebliches Gewicht haben. Die Pandemie hat zu einer Beschleunigung des europäischen Integrationsprozesses geführt, wie Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, in ihrer jüngsten, ambitionierten Rede zur Lage der EU vor dem Europäischen Parlament in Strassburg feststellte.
Die EU hat rechtzeitig und wirksam auf die durch die Pandemie ausgelöste Wirtschaftskrise reagiert. Zusätzlich zu den geldpolitischen Massnahmen der Europäischen Zentralbank (EZB) hat die EU auf der fiskalischen Seite gehandelt: So setzte sie den Stabilitäts- und Wachstumspakt schnell aus, damit die Regierungen den nötigen haushaltspolitischen Spielraum zur Ergreifung aller notwendigen Massnahmen erhalten. Zudem schuf sie ein neues gemeinsames Instrument, den Wiederaufbaufonds (auch NextGenerationEU respektive NGEU genannt), der den Aufbau- und Resilienzplan (Recovery and Resilience Facility, RRF) umfasst, um die wirtschaftliche Erholung der von der Pandemie schwer betroffenen Ländern zu unterstützen.
«Mit dem EU-Wiederaufbaufonds wurde ein grosser staatlicher Emittent geboren»
Dieses Programm und die daraus resultierenden nationalen Konjunktur- und Resilienzpläne brechen mit zwei Tabus, die im europäischen System verwurzelt sind: die Emission gemeinsamer Schuldtitel und die Genehmigung direkter Transfers von Brüssel an die Zentralregierungen für nationale Massnahmen. Mit dem Wiederaufbaufonds wurde ein grosser staatlicher Emittent geboren: Die Europäische Kommission wird zwischen Mitte 2021 und 2026 jährlich bis zu 150 Milliarden Euro auf den Kapitalmärkten aufnehmen. Bislang wurden diese Massnahmen durch die starke Nachfrage der Investoren gestützt, und die EU hat ihr AAA-Rating beibehalten. Dennoch sind noch nicht alle Fragen beantwortet. Die Zukunft Europas ist weiter offen, insbesondere was die Wirtschafts- und Währungsunion betrifft.
Nach diesem aussergewöhnlichen Zeitraum, der durch eine Vielzahl von Interventionen und innovativen Entscheidungen gekennzeichnet war, ist es nun an der Zeit für ein Comeback. Mit dem Wegfall der gesundheitspolitischen Einschränkungen und dem Anziehen der Wirtschaft müssen die Anreize, Hilfen und aussergewöhnlichen Massnahmen auf einen nachhaltigen Pfad zurückgeführt werden. Zudem sollte der Rahmen, in dem sich die Finanzpolitik bewegt, normalisiert werden.
Was die Geldpolitik betrifft, so wird die EZB bald handeln, um ihr ausserordentliches Asset-Kaufprogramm, das während der Pandemie umgesetzt wurde, neu zu gestalten. Antizipiert wird dies durch die US-Notenbank, die im Konjunkturzyklus einige Wochen voraus ist. Auf der Septembersitzung beschloss der EZB-Rat, das Tempo der Netto-Asset-Käufe im Rahmen des Pandemie-Notkaufprogramms (PEPP) zu verringern. Ich gehe davon aus, dass bis zum Jahresende weitere, richtungsweisende Entscheidungen getroffen werden.
«Die italienische Regierung hat ihre Absicht bekundet, das Defizit nach 2022 weit über 3 Prozent zu halten»
Was die Finanzpolitik betrifft, so muss ein neuer Rahmen geschaffen werden. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der das Haushaltsdefizit bei 3 Prozent des BIP deckelt und die Staatsverschuldung begrenzt, wurde nur bis 2023 ausgesetzt. Infolgedessen dürften die Diskussionen über die Architektur der Regeln, die die Wirtschafts- und Währungsunion nach der Pandemie regeln sollen, die kommenden Monate beherrschen. Einige Länder, darunter Österreich, die Niederlande, Dänemark und die Tschechische Republik, die in der Regel als eher konservativ gelten, haben sich gemeinsam für die Beibehaltung strenger Regeln der Haushaltsdisziplin ausgesprochen.
Die italienische Regierung hingegen hat kürzlich in einem offiziellen Dokument ihre Absicht bekundet, das Defizit nach 2022 weit über 3 Prozent zu halten. Die eigentlichen Verhandlungen haben jedoch noch nicht begonnen. Der Prozess überschneidet sich mit dem politischen Kalender der grossen Länder: die Bildung der deutschen Regierung und die Präsidentschaftswahlen in Frankreich im April 2022.Daher diskutieren Ökonomen und Experten für öffentliche Finanzen derzeit offen über mögliche Modelle und Reformvorschläge.
«In seiner jetzigen Form handelt es sich um ein einmaliges Programm, das 2026 ausläuft»
Eine weit verbreitete Expertenmeinung besagt, dass eine Rückkehr zum ursprünglichen Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht möglich ist, auch angesichts einiger technischer Schwachstellen, die er aufgewiesen hat. Allerdings gehen die Ansichten über die Reichweite und Tiefe der Reformen auseinander. Es gibt den Vorschlag, wie in einem aktuellen Papier der Brüsseler Denkfabrik Bruegel hervorgehoben, in den bestehenden Rahmen einzugreifen, indem eine «grüne Goldene Regel» eingeführt wird, die öffentliche grüne Investitionen von den Regeln zu Defizit und Verschuldung ausnimmt. Dies könnte durch Auslegungsvermerke der Europäischen Kommission erreicht werden, ohne die bestehenden Regeln formell zu ändern.
Andere, darunter Joseph E. Stiglitz in einem kürzlich erschienenen «Financial Times»-Artikel, argumentieren, dass eine tiefgreifende Reform der Regeln notwendig sei, um die in der Finanzkrise von 2008 gemachten Fehler nicht zu wiederholen. In diesem Sinne schlagen mehrere massgebliche Wirtschaftswissenschaftler wie Olivier Blanchard und Jean Pisani Ferry vor, den derzeitigen Rahmen rechtlicher Regeln, der für alle gleich ist, durch einen Mechanismus abzulösen, der sich an den makroökonomischen Grundsätzen der Stabilität öffentlicher Finanzen orientiert und von Land zu Land angewendet wird.
Die Zukunft des Wiederaufbaufonds NGEU und des Aufbau- und Resilienzplans RRF ist mit dieser Debatte verknüpft. In seiner jetzigen Form handelt es sich um ein einmaliges Programm, das 2026 ausläuft. Es wird diskutiert werden, ob und wie es als dauerhaftes Instrument gestaltet werden kann, welches es der Kommission ermöglicht, auf den Kapitalmärkten Mittel für Investitionen auf nationaler und europäischer Ebene zu beschaffen, vielleicht in Bereichen wie Dekarbonisierung und Nachhaltigkeit.
Natürlich werden die Wirksamkeit und die Geschwindigkeit, mit der diese aktuellen RRF-Mittel ausgegeben werden, bei dieser Entscheidung eine Rolle spielen. Einige wenige Länder, allen voran Italien, sind der eigentliche Lackmustest für das Funktionieren dieses Instruments. In diesem Sinne ist die Verantwortung für die Umsetzung des nationalen Konjunktur- und Resilienzplans, die bis 2026 auf den italienischen Regierungen lastet, besonders gross.
«Olaf Scholz hat die Notwendigkeit sozialer und grüner Investitionen betont»
Während des deutschen Wahlkampfs konzentrierte sich die Diskussion auf die Rückkehr zur schwarzen Null, dem deutschen Verfassungsgrundsatz, nach dem der Bundeshaushalt ausgeglichen sein muss. Auch diese Regel wurde pandemiebedingt ausser Kraft gesetzt, sodass Bundeskanzlerin Angela Merkel die Notmassnahmen der letzten Monate defizitär finanzieren konnte. Die einzige Partei, die diese Regel grundsätzlich in Frage stellt, sind die Grünen. Diese möchten in den nächsten Jahren 500 Milliarden Euro für Investitionen in die Dekarbonisierung bereitstellen.
Die anderen Parteien scheinen, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten, alle eine Rückkehr zu einer strengeren Haushaltsdisziplin zu befürworten. Olaf Scholz, aller Voraussicht nach der nächste Bundeskanzler, hat die Notwendigkeit sozialer und grüner Investitionen betont. Er scheint aber nicht gewillt zu sein, bereits bestehende nationale und europäische Regeln aufzugeben.
Abschliessend lässt sich sagen, dass es sicherlich einen zunehmend soliden konzeptionellen Rahmen dafür gibt, nicht zum Status quo vor der Pandemie zurückzukehren. Viel Aufmerksamkeit wird der Einführung von Mechanismen zur Flexibilisierung von Investitionen gewidmet, die die Energiewende erleichtern und der Klimakrise begegnen. Inwieweit dieser Konsens zur politischen Realität werden kann, hängt von den politischen Entwicklungen in den wichtigsten Ländern ab, allen voran in Deutschland.
Fabrizio Pagani stiess Mitte 2018 als Global Head of Economics and Capital Markets Strategy zum Asset Manager Muzinich. Zuvor war er im öffentlichen Dienst tätig, zuletzt als Büroleiter des italienischen Finanzministers sowie als G20-Sherpa und Berater in Wirtschaftsfragen. Davor arbeitete er bei der OECD in Paris, wo er für die Arbeiten der OECD an den G20- und G8-Gipfeln nach der Finanzkrise verantwortlich war. Er besitzt einen Abschluss in Internationalen Angelegenheiten der Scuola S. Anna in Pisa und einen Master in Internationalem und Europäischem Recht des European University Institute.
Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Rolf Banz, Werner Vogt, Walter Wittmann, Alfred Mettler, Robert Holzach, Craig Murray, David Zollinger, Arthur Bolliger, Beat Kappeler, Chris Rowe, Stefan Gerlach, Marc Lussy, Nuno Fernandes, Richard Egger, Dieter Ruloff, Marco Bargel, Steve Hanke, Urs Schoettli, Maurice Pedergnana, Stefan Kreuzkamp, Oliver Bussmann, Michael Benz, Albert Steck, Martin Dahinden, Thomas Fedier, Alfred Mettler, Brigitte Strebel, Mirjam Staub-Bisang, Kim Iskyan, Stephen Dover, Denise Kenyon-Rouvinez, Christian Dreyer, Kinan Khadam-Al-Jame, Robert Hemmi, Anton Affentranger, Yves Mirabaud, Hans-Martin Kraus, Gérard Guerdat, Mario Bassi, Stephen Thariyan, Dan Steinbock, Rino Borini, Bert Flossbach, Michael Hasenstab, Guido Schilling, Werner E. Rutsch, Dorte Bech Vizard, Adriano B. Lucatelli, Maya Bhandari, Jean Tirole, Hans Jakob Roth, Marco Martinelli, Thomas Sutter, Tom King, Werner Peyer, Thomas Kupfer, Peter Kurer, Arturo Bris, Frédéric Papp, James Syme, Dennis Larsen, Bernd Kramer, Marionna Wegenstein, Armin Jans, Nicolas Roth, Hans Ulrich Jost, Patrick Hunger, Fabrizio Quirighetti, Claire Shaw, Peter Fanconi, Alex Wolf, Dan Steinbock, Patrick Scheurle, Sandro Occhilupo, Will Ballard, Nicholas Yeo, Claude-Alain Margelisch, Jean-François Hirschel, Jens Pongratz, Samuel Gerber, Philipp Weckherlin, Anne Richards, Antoni Trenchev, Benoit Barbereau, Pascal R. Bersier, Shaul Lifshitz, Ana Botín, Martin Gilbert, Jesper Koll, Ingo Rauser, Carlo Capaul, Markus Winkler, Konrad Hummler, Thomas Steinemann, Christina Böck, Guillaume Compeyron, Miro Zivkovic, Alexander F. Wagner, Eric Heymann, Christoph Sax, Felix Brem, Jochen Möbert, Jacques-Aurélien Marcireau, Ursula Finsterwald, Claudia Kraaz, Michel Longhini, Stefan Blum, Nicolas Ramelet, Søren Bjønness, Andreas Britt, Gilles Prince, Shanu Hinduja, Salman Ahmed, Stéphane Monier, Peter van der Welle, Ken Orchard, Christian Gast, Jürgen Braunstein, Jeffrey Vögeli, Fiona Frick, Stefan Schneider, Matthias Hunn, Andreas Vetsch, Mark Hawtin, Fabiana Fedeli, Marionna Wegenstein, Kim Fournais, Carole Millet, Swetha Ramachandran, Brigitte Kaps, Thomas Stucki, Neil Shearing, Claude Baumann, Tom Naratil, Oliver Berger, Robert Sharps, Tobias Müller, Florian Wicki, Jean Keller, Niels Lan Doky, Karin M. Klossek, Ralph Ebert, Johnny El Hachem, Judith Basad, Katharina Bart, Thorsten Polleit, Bernardo Brunschwiler, Peter Schmid, Karam Hinduja, Zsolt Kohalmi, Raphaël Surber, Santosh Brivio, Mark Urquhart, Olivier Kessler, Bruno Capone, Peter Hody, Andrew Isbester, Florin Baeriswyl, Agniszka Walorska, Thomas Müller, Ebrahim Attarzadeh, Marcel Hostettler, Hui Zhang, Michael Bornhäusser, Reto Jauch, Angela Agostini, Guy de Blonay, Tatjana Greil Castro, Jean-Baptiste Berthon, Dietrich Grönemeyer, Mobeen Tahir, Didier Saint-Georges, Serge Tabachnik, Rolando Grandi, Vega Ibanez, Beat Wittmann, David Folkerts-Landau, Andreas Ita, Teodoro Cocca, Michael Welti, Mihkel Vitsur, Fabrizio Pagani, Roman Balzan, Todd Saligman, Christian Kälin, Stuart Dunbar, Fernando Fernández, Lars Jaeger, Carina Schaurte, Birte Orth-Freese, Gun Woo, Lamara von Albertini, Philip Adler, Ramon Vogt, Gérard Piasko, Andrea Hoffmann, Niccolò Garzelli, Darren Williams, Benjamin Böhner, Mike Judith, Grégoire Bordier, Jared Cook, Henk Grootveld, Roman Gaus, Nicolas Faller, Anna Stünzi, Philipp Kaupke und Thomas Höhne-Sparborth.