Immer mehr Unternehmen setzen auf Ökosysteme. Doch der Umgang mit diesen neuen Modellen ist nicht einfach, wie Marco Huwiler in seinem Essay für finews.first feststellt.


In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


Sind Versicherer für Hausrat und Haftpflicht heute nicht vielmehr Rundum-Experten fürs Wohnen (wie die Helvetia oder Baloise)? Energieunternehmen IT-Spezialisten und Klimatechniker (wie die BKW)? Ist Amazon nicht längst vom Buchhändler zum Universaldienstleister geworden? Apple auch ein Zahlsystem?

Warum arbeiten Banken mit Immobilienplattformen zusammen (wie UBS und Moneypark)? Warum verstehen sich Pharmaunternehmen heute zunehmend auch als Digital-Health-Dienstleister (wie Roche mit mySugr)? Und warum beteiligt der Mediengigant Ringier die Mobiliar-Versicherung am eigenen Unternehmen?

Weil heute das Denken in Kundenbedürfnissen das Denken in Branchen und Produkten ersetzt. Das ist richtig so. Denn Kundinnen und Kunden wollen heute nicht einfach das Produkt oder die Dienstleistung, die ihnen angeboten werden. Kundinnen und Kunden haben Bedürfnisse – zuhause, in der Mobilität, beim Energiesparen, in der Gesundheitsversorgung und so weiter. Daten und Digitalisierung werden dabei immer wichtiger. Und vor allem das Denken und Handeln in Ökosystemen.

«Innovation entsteht im digitalen Zeitalter immer häufiger durch externe Kooperation»

Immer mehr Unternehmen setzen auf Ökosysteme, weil sie das Innovations- und Wertschöpfungspotenzial erkennen: Das Kerngeschäft wächst, Netzwerk und Portfolio werden grösser, die Einnahmen aus neuen Produkten oder Dienstleistungen steigen. Innovation entsteht im digitalen Zeitalter immer häufiger durch externe Kooperation. Durch Partnerschaften werden neue Plattformen geschaffen, auf denen Kundinnen und Kunden von einer Kombination unterschiedlicher Kompetenzen profitieren und dadurch einen Mehrwert erhalten.

Immer häufiger arbeiten traditionelle Unternehmen deshalb mit Startups zusammen – oder kaufen diese auf. Der Grund ist einfach: Ein etablierter Player verfügt über Kundendaten, ein Startup kennt Kundenbedürfnisse. Wenn der Tanker auf das Schnellboot trifft, verbindet sich das Beste aus zwei Welten: vernetzte Dienstleistung. So werden nicht nur Veränderungen erkannt, sondern auch Lösungen für neue Produkte, Dienstleistungen und ganze Geschäftsmodelle erarbeitet.

«Ein Ökosystem sollte sich über die ganze Wertschöpfungskette erstrecken»

Einfach ist das Denken und Handeln in Ökosystemen – insbesondere für kleinere Unternehmen – nicht. Ökosysteme sind komplex. Es ist herausfordernd, das richtige Ökosystem aufzubauen, um grösstmöglichen Nutzen daraus zu ziehen. Dabei ist zu überlegen, ob man das Ökosystem selbst aufbaut oder fehlende Kompetenzen durch Partner ergänzt.

Nötige Kompetenzen in einem Unternehmen selbst aufzubauen, ist schwierig sowie zeit- und kostenintensiv, das Eingehen von Partnerschaften daher oft lohnender. Die Überwindung von Komplexität ist keine Frage interner Kompetenzen, sondern der strategischen Nutzung eines Ökosystems. Hub eines grossen Netzwerks zu sein kann sich ebenso lohnen.

Zu einem erfolgreichen Ökosystem gehören dabei zwingend Kundinnen und Kunden, Lieferanten sowie Mitarbeitende. Je nach Geschäftsmodell braucht es weitere Partner, wie Wissenschaftler. Wichtig ist auch, dass sich das Ökosystem über die ganze Wertschöpfungskette erstreckt. Innovation muss zum Nutzen aller durch Informationen, Ideen, Daten und Wissen vorangetrieben werden.

«CEOs müssen sich im Umgang mit Ökosystemen von Top-down-Strukturen lösen»

Ökosysteme bringen grosse Veränderungen, die das ganze Unternehmen mittragen muss – insbesondere das Management. Offenheit ist gefordert, sowohl bezüglich menschlicher Ressourcen als auch Know-how. Ökosysteme bedingen neue Fähigkeiten in einem Unternehmen, welche weiterentwickelt, durch Neueinstellungen oder über Partner gewonnen werden können.

CEOs müssen sich im Umgang mit Ökosystemen von klassischen «Top-down»-Strukturen lösen. In flacheren Hierarchien können, in Zusammenarbeit mit den Ökosystem-Partnern, auf eine agile Art und Weise die Leitplanken für Entscheide gesetzt werden.

Ziele sollten ganzheitlich und gemeinsam mit den Ökosystem-Partnern definiert werden. Der Ankerpunkt zwischen den verschiedenen Partnern ist immer der Kunde und seine Bedürfnisse, welche über die Grenzen der beteiligten Unternehmen hinweg verlaufen.

Die Investitionen in Ökosysteme sind immer übergeordnet in die Unternehmensziele einzugliedern. Es geht um die richtige Balance zwischen Investitionen zur Kostenoptimierung und Nutzung von zusätzlichem Potential in bestehenden Geschäftsmodellen sowie der Schaffung von neuen Geschäftsmodellen zur langfristigen Erfolgssicherung und Resilienz.

«Viel zu oft stehen heute nicht-ökonomische Faktoren im Vordergrund, die eine rasche Skalierung erschweren»

Um die Skalierung der neuen Geschäftsmodelle voranzutreiben, ist es wichtig, sich ambitionierte Ziele zu setzen, diese mit den richtigen Kennzahlen zu hinterlegen und die Verantwortlichen auch an diesen zu messen. Viel zu oft stehen heute nicht-ökonomische Faktoren im Vordergrund, die eine rasche Skalierung erschweren.

Die Arbeit in und mit Ökosystemen ist eine Herausforderung. Das Nutzen der «Weisheit der Vielen» ist anspruchsvoll, sowie der Orchestrierungsaufwand nicht zu unterschätzen. Meist müssen verschiedene Kulturen zusammengebracht und althergebrachte Hierarchien aufgebrochen werden.

Dennoch lohnt sich die Auseinandersetzung mit dem Ökosystem. Denn nicht nur Firmen kämpfen heute mit ihren Produkten um die Gunst der Kundinnen und Kunden, sondern vermehrt auch Ökosysteme.


Marco Huwiler ist seit Anfang 2020 als Country Managing Director bei Accenture Schweiz tätig. Zuvor leitete er den Bereich Finanzdienstleistungen. Neben seiner Arbeit bei Accenture ist er Mitglied des Steering Committee von digitalswitzerland, dem Schweizer Dachverband für den Technologie- und Digitalsektor. Er hat einen Master-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften der Universität Fribourg. Zu Accenture stiess er 2001.


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