Trotz Globalisierung unterschätzen viele Firmenchefs die kulturellen Unterschiede in der Geschäftswelt. Eine Tatsache, die sich sehr schnell rächt, wie der frühere Schweizer Botschafter Hans Jakob Roth in seinem Essay für finews.first schreibt.


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. Die Auswahl der Texte liegt bei finews.ch.


Die ausgeprägten Tendenzen in der Globalisierung beeinflussen den Finanzsektor immer stärker. Anbieter aus unseren Breitengraden expandieren nach Asien, während sich nichtwestliche Institute in Europa oder in den USA niederlassen. Dabei stellen sich diesen Banken und Versicherungen auf beiden Seiten grosse kulturelle Herausforderungen, die alle Unternehmensbereiche erfassen.

Da sie jedoch wenig konkret sind, werden sie regelmässig unterschätzt oder gar übergangen, eine Tatsache, die sich schnell rächen kann. Ein Beispiel mag zeigen, wie leicht Missverständnisse zwischen Personen aus verschiedenen Kulturen entstehen können.

In einer gösseren ausländischen Tochtergesellschaft eines europäischen Finanzdienstleisters im Raum Shanghai war der europäische General Manager (GM) mit dem verwendeten Spesenformular nicht zufrieden und beauftragte seinen chinesischen Finanzchef, ein neues zu kreieren.

«Er denkt gar nicht daran, dass er dermassen falsch verstanden werden könnte»

Nach über zwei Wochen sah er, wie erneut einer der Angestellten das alte Formular brauchte und fragte darauf seinen Finanzchef, ob das neue Formular noch nicht verteilt worden sei. Dieser erwiderte, er habe es verteilen lassen, worauf der GM ihn fragte, warum dann immer noch das andere Formular verwendet werde. Der Finanzchef erklärte dem GM darauf, dass er das Formular nur in der Finanzabteilung ausgeteilt habe, nicht hingegen in den anderen Abteilungen.

Das Beispiel ist ein klassischer Fall, um fehlende interkulturelle Kompetenz aufzeigen zu können – und ein ebenso klassischer Fall, um zu zeigen, warum kulturelle Fragen im Unternehmensalltag laufend übersehen werden. Im Managementseminar hätte man dem GM vorgeworfen, dass seine Anordnungen nicht klar genug gewesen seien. Doch dieser Vorwurf ist nur im eigenen kulturellen Zusammenhang richtig. Er übersieht, dass die Unterscheidung zwischen Eigengruppe und Fremdgruppen in Asien wesentlich stärker ist als in Europa.

Der chinesische Finanzchef nimmt den Auftrag deshalb in erster Linie für seine eigene Gruppe wahr. Andere Abteilungen bezieht er nicht ein. In Unkenntnis dieser anderen kulturellen Gewichtung ist es dem GM unmöglich, seinen Auftrag präziser zu formulieren. Er denkt gar nicht daran, dass er dermassen «falsch» verstanden werden könnte.

«Ein westlicher Manager muss sehr genau hinhören können»

Kulturelle Einflussfaktoren sind Hintergrundfaktoren, die auf der Handlungsebene oft nicht ersichtlich sind. Es ist deshalb für ein global tätiges Unternehmen wichtig, die grössten kulturellen Unterschiede zu kennen, wie jenen zwischen Eigen- und Fremdgruppe. Jede Gesellschaft macht diese Unterscheidung. Doch in Nähe-betonten Gesellschaften wie den asiatischen ist die Eigengruppe ausgesprochen wichtig.

In ihr herrscht normalerweise gegenseitige Rücksicht, die sich in Harmonie und Konsens zeigt. Niemand wird in einem Meeting eine Meinung äussern, die ihn zu stark von den Anderen entfernt. Kritik wird kaum zum Ausdruck kommen, und wenn, dann höchstens in angetönten Fragen. Ein westlicher Manager muss sehr genau hinhören können, um überhaupt zu verstehen, was mit dem Halbsatz seiner Mitarbeiterin im Staff-Meeting überhaupt gemeint war.

Die Kehrseite der Medaille besteht darin, dass dieses Harmonie- und Konsensempfinden eine hohe Aufmerksamkeit verlangt, die dann im Fremdgruppen-Bereich fehlt. Fremdgruppen werden hemmungslos ausgenutzt.

«Der General Manager ist der Vater des Unternehmens und muss dies auch vorleben»

An westlichen Werten gemessen ist das Verhalten im Aussenbereich von einer deutlichen Brutalität geprägt. Das harmonische Verhalten im Eigengruppen-Bereich findet seine Entsprechung in den ausgesprochen harten Haltungen gegenüber Aussenstehenden. Am Kundenschalter kann dies zu echten Problemen führen, wenn der lokale Mitarbeiter den lokalen Kunden nicht im Eigengruppen-Bereich wahrnimmt.

Diese soziale Nähe in der Gruppe zeigt auch, dass in der Unternehmensführung in Asien Mitarbeiterorientierung an erster Stelle stehen muss. Zielorientierung kommt nicht an, wenn sie nicht von Coaching und Caring begleitet wird. Der GM ist der Vater des Unternehmens und muss dies auch vorleben können. In Europa kann ein Coaching von einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter leicht missverstanden werden. Es wird schnell als mangelndes Vertrauen des Chefs in die eigenen Fähigkeiten interpretiert.

Wenn hingegen in China Coaching und Caring nicht im Zentrum stehen, dann ist für chinesische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Kernfamilie der Ort, an dem sich die Moral orientiert, und man wird sich ohne jegliche moralische Bedenken zugunsten der eigenen Familie am Firmengut bedienen.

Ich denke dabei an ein Gespräch, das ich mit einer jungen japanischen Frau auf dem Flug von Tokio nach Peking hatte. Sie war seit einem Jahr mit einem chinesischen Mann verheiratet und war zum ersten Mal auf dem Weg nach China.

«Die Ärztin hatte angesichts des Staus auf der Flughafenstrasse chinesisch gedacht»

Am Flughafen sollte sie von ihrer Schwiegermutter abgeholt werden, einer Ärztin in gehobener Position in einem der grossen städtischen Krankenhäuser. Die Schwiegermutter fragte sie, ob sie etwas dagegen hätte, dass man sie im Krankenwagen vom Flughafen abhole. Als Japanerin verstand sie die Frage nicht. Ich musste lachen, denn die Ärztin hatte angesichts des Staus auf der Flughafenstrasse pragmatisch chinesisch gedacht. Mit eingeschaltetem Rotlicht würde die Fahrt höchstens halb so lang dauern, am Flughafen gäbe es mit Sicherheit keine Parkprobleme und eine schnelle Rückfahrt wäre ebenfalls garantiert.

Westliche Unternehmen in Asien tun deshalb gut daran, sich eine soziale Nähe zu erarbeiten, die sie näher zur Mitarbeiterin und zum Mitarbeiter bringt. Sie tun auch gut daran, im operativen Bereich auf ihre lokalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu hören. Dabei müssen sie allerdings sicherstellen, dass die strategischen Belange genügend berücksichtigt werden und moralische Aspekte nach den Kriterien des Mutterhauses angesehen werden, wenn sie sich keine Compliance-Probleme einhandeln wollen.


Nach einer diplomatischen Karriere, die Hans Jakob Roth sechs Jahre nach Japan und 14 Jahre nach China führte, und die er als Botschafter für grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit den Nachbarnationen beendete, gründete er mit drei Partnern das Unternehmen EurAsia Competence. Die Firma ist auf Cultural Due Diligence spezialisiert und begleitet international tätigen Unternehmen, die in anderen kulturellen Umfeldern tätig sind. 

Roth ist Autor zahlreicher Bücher zum Thema, zuletzt erschienen 2016 «Geschlecht und Macht» sowie «Menschenrechte in der kulturellen Herausforderung des 21. Jahrhunderts». Er spricht fliessend Deutsch, Französisch, Englisch sowie Chinesisch und hat gute Kenntnisse in Italienisch und Japanisch. Roth wohnt in Bangkok und lernt Thailändisch.


Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Oliver Berger, Rolf Banz, Samuel Gerber, Werner Vogt, Walter Wittmann, Alfred Mettler, Robert Holzach, Craig Murray, David Zollinger, Arthur Bolliger, Beat Kappeler, Chris Rowe, Stefan Gerlach, Marc Lussy, Samuel Gerber, Nuno Fernandes, Beat Wittmann, Richard Egger, Dieter Ruloff, Marco Bargel, Steve Hanke, Urs Schoettli, Maurice Pedergnana, Stefan Kreuzkamp, Oliver Bussmann, Michael Benz, Albert Steck, Andreas Britt, Martin Dahinden, Thomas Fedier, Alfred Mettler, Brigitte Strebel, Peter Hody, Mirjam Staub-Bisang, Nicolas Roth, Thorsten Polleit, Kim Iskyan, Stephen Dover, Denise Kenyon-Rouvinez, Christian Dreyer, Peter Kurer, Kinan Khadam-Al-Jame, Werner E. Rutsch, Robert Hemmi, Claude Baumann, Anton Affentranger, Yves Mirabaud, Frédéric Papp, Hans-Martin Kraus, Gérard Guerdat, Didier Saint-Georges, Mario Bassi, Stephen Thariyan, Dan Steinbock, Rino Borini, Bert Flossbach, Michael Hasenstab, Guido Schilling, Werner E. Rutsch, Dorte Bech Vizard, Adriano B. Lucatelli, Katharina Bart, Maya Bhandari und Jean Tirole.