Der russische Angriff auf die Ukraine ist schon über zwei Monate alt. Viele Marktteilnehmende scheinen sich daran gewöhnt zu haben. Ist nun alles wieder so wie vor dem russischen Angriff? Kaum, schreibt Gérard Piasko in seinem Beitrag auf finews.first.


In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen


Obwohl man hoffen will, dass der Krieg rasch beendet wird, ist es wohl wahrscheinlicher, dass er längere Zeit andauert. Eventuell eskaliert er sogar zusätzlich, was eine Ausweitung von Sanktionen und mehr Druck auf Risiko-orientierte Anlagen wie Aktien auslösen könnte.

Eine Eskalation würde das Stagflationsrisiko in Richtung Rezessionsrisiko erhöhen. Aufgrund der Energieabhängigkeit Europas wäre hierbei die EU mehr betroffen als die USA oder die Schweiz, wo nur rund 7 Prozent der Energieversorgung direkt aus Russland stammt. In einigen EU-Ländern sind es über 50 Prozent.

Was könnten die wirtschaftlichen Auswirkungen bei einem länger andauernden Konflikt ohne zusätzliche Eskalation sein?

Da rund 30 bis 40 Prozent der europäischen Gas- und Ölimporte aus Russland stammen, würden die Energiepreise wohl, abgesehen von sporadischen Konsolidierungen, längere Zeit auf den historisch hohen Niveaus verharren. Dies wäre auch bei zusätzlichen, nicht ausreichenden Flüssiggas-Lieferungen aus den USA oder Katar der Fall.

«Damit würde der politische Druck auf die amerikanische Zentralbank steigen»

Ein derart hohes Niveau hätte Verteuerungen, eventuell auch vorübergehende Unterbrüche bei der industriellen Produktion in verschiedenen Ländern zur Folge und würde die globale Inflation länger auf für die Zentralbanken zu hohen Niveaus belassen. Die Inflation in der Eurozone dürfte in diesem Fall 1,5 bis 3,5 Prozent höher ausfallen als bei einem Kriegsende respektive einer klaren Deeskalation.

In den Schwellenländern und den USA könnte die Inflation bei den Produzenten- und den Konsumentenpreisen um 1 bis 2 Prozent höher zu liegen kommen als vor dem Krieg. Damit würde der politische Druck auf die amerikanische Zentralbank (Federal Reserve, Fed) steigen, die Zinserhöhungen weiter voranzutreiben.

«Das Weltwirtschaftswachstum könnte sich aufgrund des Ukraine-Kriegs abschwächen»

Abhängig von der Entwicklung der Realzinsen könnte dies bei Anleihen wie auch bei Aktien zu zusätzlichen Belastungen führen. Da dann das globale Wirtschaftswachstum geringer ausfallen dürfte, würden defensiver, also weniger konjunkturabhängige Anleihen und Aktien mehr nachgefragt werden.

Das Weltwirtschaftswachstum könnte sich 2022 aufgrund des Ukraine-Kriegs um 0,75 bis 1,75 Prozent abschwächen, in den USA um rund 0,8 Prozent, in der EU um 1,5 bis 2,5 Prozent und in China sowie der Schweiz um rund 0,5 bis 0,75 Prozent.

Der Grund liegt zum einen im langsameren Wachstum der industriellen Produktion durch höhere Transport- und Rohstoffkosten sowie temporär erhöhter Lieferprobleme. Zum anderen sinkt bei im historischen Vergleich anhaltend hohen Rohstoff- und Konsumentenpreisen das für den Konsum verfügbare Einkommen respektive die Kaufkraft der Verbraucher.

«Auch das Umsatzwachstum dürfte sich bei einem länger andauernden Krieg reduzieren»

Das Wachstum der Unternehmensgewinne würde sich gegenüber der bestehenden Marktkonsenserwartung ebenfalls reduzieren. Dies ausgelöst durch den Margendruck steigender Rohstoff-, Lohn-, Transport- und Finanzierungskosten, da sich die Marktzinsen erhöhen.

Aber auch das Umsatzwachstum dürfte sich bei einem länger andauernden Krieg zusehends reduzieren, wenn sich die Konsumenten- oder die Geschäftsstimmung der Unternehmer sogar Investitionen der Firmen eintrüben.

«Das spricht für eine klare Fokussierung»

Dem könnte mit einer neuerlichen fiskalischen Stimulierung durch die Regierungen (vor allem in der EU) oder hinausgeschobenen Zinserhöhungen begegnet werden. Bis dies entschieden wird, erwarten wir an den Finanzmärkten für längere Zeit eine überdurchschnittliche Volatilität.

Die Wahrscheinlichkeit eines länger andauernden Konfliktes in der Ukraine mit oder ohne Eskalation respektive weitergehenden Sanktionen gegen Russland spricht für eine klare Fokussierung auf eine defensive Qualität im Sinne stabilerer Profitabilität, Durchsetzungskraft höherer Preise bei Endkunden dank guter Marktstellung (um höhere Input-Kosten kompensieren zu können) und geringere Konjunkturabhängigkeit aufgrund des zunehmenden Risikos einer klareren Abschwächung des globalen Wirtschaftswachstums.


Gérard Piasko ist seit Anfang 2018 Chief Investment Officer (CIO) der Zürcher Privatbank Maerki Baumann. Er verantwortet die Anlagestrategie des Hauses sowie die Anlagekommunikation gegenüber der Kundschaft. Er war während vieler Jahre als CIO im Private Banking der Bank Julius Bär, der Bank Sal. Oppenheim (Schweiz) und zuletzt der Deutsche Bank (Schweiz) tätig. Er hat Ökonomie und Rechtswissenschaften an der Universität Zürich studiert sowie ein Nachdiplom-Studium an der Columbia University in New York absolviert.


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