Drei Krisen in weniger als zwanzig Jahren erschütterten die Grundfesten des Schweizer Finanzsystems. Drei Lehren, die man daraus ziehen kann. Der Finanzplatz dürfe sich aber nicht in vollkommener Sicherheit wähnen, warnt der frühere Bankier Rudi Bogni.


Dieser Beitrag von Rudi Bogni erscheint in der neuen Rubrik finews.first. Darin nehmen renommierte Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Dabei äussern sie ihre eigene Meinung. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. finews.first erscheint in Zusammenarbeit mit der Genfer Bank Pictet & Cie. Die Auswahl und Verantwortung der Beiträge liegt jedoch ausschliesslich bei den Herausgebern von finews.ch. 


Eine ganz unabhängige Sicht kann ich hier nicht anbieten. Denn mindestens zehn Jahre lang war ich selber ein «Insider». Ich stiess 1990 zum Schweizerischen Bankverein (SBV), wo ich die Leitung der damals defizitären Geschäftsstelle in London übernahm. Das waren in der Tat spannende Zeiten: Der SBV übernahm in rascher Kadenz den Derivate-Spezialisten O’Connor sowie den Vermögensverwalter Brinson, beide in Chicago domiziliert, sowie die geschichtsträchtige Merchant-Bank S.G. Warburg in London. Im Jahr 1997 wechselte ich dann in die Schweiz, wo ich die Private-Banking-Division des SBV und später diejenige der fusionierten UBS verantwortete.

Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich damals in einem Interview betonte, dass es wichtig für das Swiss Banking sei, seine weltweit führende Position zu verteidigen, indem man das Fachwissen der Kundenberater rasch ausbaue und es mit den Tugenden und Werten dieses Geschäfts kopple. Ich unterstrich auch die Bedeutung lokaler Buchungszentren in den wichtigsten Märkten, um der Klientel steuerkonforme Anlageprodukte anzubieten.

«Ich bin von den Prinzipien des Bankgeheimnisses noch immer überzeugt»

Meine Äusserungen kamen insgesamt nicht gut. Zu sehr war man damals noch auf das traditionelle Schweizer Bankgeheimnis ausgerichtet. Dessen ungeachtet entschloss ich mich, meinen Weg zu gehen, und rückblickend bin ich heute vor allem auf zwei Dinge stolz, die ich seinerzeit initiiert habe: Nämlich ein Management-Training-Programm für Vermögensverwalter sowie – nicht zuletzt dank der Unterstützung des damaligen UBS-Präsidenten Marcel Ospel – die Gründung der Optimus Foundation.

Trotz meiner durchaus pragmatischen Annahme, dass die Tage des Schweizer Bankgeheimnisses gezählt seien, war ich von dessen fundamentalen Prinzipien stets überzeugt. Vor diesem Hintergrund gehe ich auch heute noch davon aus, dass der angebliche Kampf gegen die Steuerhinterziehung höchstens zweitrangig der Grund für die internationalen Angriffe auf das Schweizer Bankgeheimnis darstellt. Die primäre und historische Motivation war stets, die Kontrolle über die Bürgerinnen und Bürger eines Landes zu erlangen.

«Waren Steuern im Dritten Reich etwa moralisch begründet?»

Um allfällige Missverständnisse aus dem Weg zu räumen: Ich halte daran fest, dass Bürgerinnen und Bürger eines Landes ehrlich ihre Steuern bezahlen sollen, als Teil des jeweiligen Gesellschaftsvertrags. Allerdings widerspreche ich vehement jenen Politikern, die behaupten, Steuern zu zahlen sei eine universelle moralische Verpflichtung. Waren Steuern im Dritten Reich etwa moralisch begründet? Ich belasse es bei der Frage.

Die meisten Leute meinen, dass das Schweizer Bankgeheimnis entstamme in seinen Ursprüngen dem Bankengesetz, das das Schweizer Parlament 1934 und 1984 im Rahmen einer Volksabstimmung nochmals bestätigt wurde. Doch das ist nicht ganz korrekt: Schon der Grosse Rat – oder das so genannte Konzil – von Genf verlangte 1713 von seinen Bankleuten eine Kundenvertraulichkeit, die nur diese Behörde selber aufgehoben werden konnte. So gesehen hat das Schweizer Bankgeheimnis fiel tiefere Wurzeln als man gemeinhin annimmt.

«Die Abhängigkeit vom Dollar bleibt bis heute ein Risikofaktor»

Heute befindet sich die Schweizer Finanzbranche, die nach wie vor einen bedeutenden Pfeiler der hiesigen Volkswirtschaft darstellt, in einer guten Verfassung. Trotz der anhaltenden Versuche, das Bankgeheimnis zu untergraben, ist der Erhalt der finanziellen Privatsphäre nach wie vor ein zentrales Element.

Natürlich ist die aggregierte Bilanzsumme des Schweizer Finanzsektors immer noch riesig im Verhältnis zur Grösse des Landes und dessen Bruttoinlandprodukt. Aber die sozusagen auf dem Silbertablett präsentierten Eigenmittel-Vorschriften der Aufsichtsbehörden haben die Branche gezwungen ihre Kapitalausstattung sicherer zu gestalten, ja, sie im Vergleich zu führer sogar teilweise zu übertreffen. Als Risikofaktor bleibt indessen die unvermeidliche Abhängigkeit vom Dollar und dem amerikanischen Finanzmarkt.

«Diese Transaktionen gingen durch einen so genannten Swiss Pool»

Ein Blick zurück zeigt: Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten Länder wie Deutschland, Italien, Japan und Korea Swaps in Dollar, um ihre Wirtschaft wieder in Fahrt zu bringen. Die Schweiz benötigte solche Zuwendungen nicht, obschon, was höchst interessant ist, die Finanzierung deutscher Banken durch einen so genannten «Swiss Pool» gingen, um den ganzen Prozedere eine gewisse Rechtsstaatlichkeit zu verleihen. Unter diesen Prämissen könnte die Schweiz in einer neuerlichen Finanzkrise wiederum einen direkten Zugang zu Dollar-Swaps einfordern, und vermutlich in einem geringen Mass auch zum Euro. Die Abhängigkeit von den grossen Finanzmächten dieser Welt ist das Risiko eines Kleinstaates wie die Schweiz, der im globalisierten Finanzsystem eine so bedeutende Rolle spielt und gerade auch deswegen in den Clearing- und Settlement-Prozessen auf einen direkten Zugang zum Dollar und Euro angewiesen ist.

«Es gab auch längere Perioden von grosser Orientierungslosigkeit»

Die gute Verfassung des Schweizer Finanzsystems von heute ist nicht zuletzt auch auf das grosse Fachwissen der Bank- und Versicherungsangestellten, den Vermögensverwaltern, unabhängigen Finanzberatern, Börsenbetreibern und anderen so genannten Finanzintermediären zurückzuführen. Diese Kompetenz beruht auf den soliden Werten, welche die Schweiz über die Zeit geschaffen hat: Rechtssicherheit, widerstandsfähige Behörden, die direkte Demokratie und das damit verbundene Selbstverständnis sowie – nach der Finanzkrise – die Rekapitalisierung der wichtigsten Finanzinstitute. Und trotz der mitunter wenig erfreulichen Erfahrungen in der jüngsten Finanzkrise haben viele Schweizer Anleger den Geschmack für Finanzinnovationen nicht verloren, sondern sie interessieren sich beispielsweise für Insurance-Linked-Securities oder Strukturierte Produkte und andere Derivate.

Das alles darf indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schweiz allein in den vergangenen zwanzig Jahren bisweilen längere Perioden einer grossen Orientierungslosigkeit durchmachte. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Verwunderung, aber auch an den Schock hierzulande, als die Beschuldigungen der jüdischen Sammelkläger und der amerikanischen Regierung aufkamen und schliesslich in die Kontroverse um die Nachrichtenlosen Vermögen mündeten.

«Der Schweiz gelang es schliesslich doch, diese Kontroverse zu lösen»

Die Schweiz war im Zweiten Weltkrieg ein neutrales Land, das nicht nur jüdisches Fluchtgeld entgegen-, sondern auch jüdische Flüchtlinge aufnahm. Darüber hinaus führte die Schweiz genauestens Buch über alle Depositen und Investitionen. Man kann der Schweiz vielleicht vorwerfen, bei der späteren Rückforderung von Vermögen etwas sehr bürokratisch gehandelt zu haben, aber sicher nicht, dass sie ihre Dokumente vernachlässigt hat.

Im Gegenteil: Einmal unterhielt ich mich mit dem Vorsitzenden einer jüdischen Organisation. Dabei fragte ich ihn, warum sich die Angriffe auf die Schweiz beschränkten, und nicht auch auf andere grosse Finanzzentren der Kapitalflucht, wie London und New York; der Bundesstaat New York konfiszierte alle nachrichtenlosen Vermögen schon nach fünf Jahren und führte sie jeweils den dortigen Finanzbehörden zu. Entsprechend verschwanden auch die entsprechenden Dokumente. Mein Gesprächspartner erwiderte, dass dies alles irrelevante Details seien. Der Hauptgrund für die Kampagne gegen die Schweiz sei, das Gedenken an den Holocaust zu erhalten.

Der Schweiz gelang es schliesslich doch noch, die Kontroverse um die nachrichtenlosen Vermögen zu lösen – allerdings nicht ohne eine tiefgreifende Krise unter die der hiesigen Bevölkerung und der bitteren Erkenntnis, von der US-Regierung doch etwas ungerecht behandelt worden zu sein. Denn in der Vergangenheit hatten sich die Amerikaner als durchaus verlässliche Partner erwiesen, etwa bei der Lösung des so genannten Interhandel-Geschäfts.

«Das war fatal, wie sich schon bald zeigen würde»

Aus dem zweiten, bedeutenden Debakel des Schweizer Bankensytems ging die Schweizer Politik und Diplomatie sehr konfus hervor. Und das kam so: Viele Finanzinstitute, darunter eben auch die Schweizer Banken, fanden sich im 21. Jahrhundert unvermutet in der Rolle von Steuereintreibern für die US-Regierung, die ihrerseits Jagd auf jene Bürgerinnen und Bürger machte, die sie der Steuerhinterziehung verdächtigte. Bis heute ist es unvorstellbar, dass die Schweizer Regierung mit denselben Forderungen an die US-Banken herangetreten wäre. Doch Realpolitik gehorchte schon immer asymmetrischen Gegebenheiten.

Zu dem Zeitpunkt, als das alles geschah, war ich nicht mehr direkt in das Schweizer Bankwesen involviert. Dennoch konnte ich feststellen, dass eine Anzahl Schweizer Banken trotz der veränderten Stimmungslage in den USA das Geschäft (mit unversteuerten US-Kunden) weiterhin als den «Courant normal» betrachteten. Das war fatal, wie sich schon bald zeigen würde. Denn die Amerikaner kannten bei ihrer Jagd nach Steuersündern und deren Helfershelfer kein Pardon. Mit den Folgen davon beschäftigen sich die Schweizer Banken bis heute, da ich diese Zeilen schreibe.

«Dem prüfenden Auge entgingen die riesigen Verschuldungsverhältnisse»

Als dritte grosse Krise für die Schweizer Banken erwies sich die globale Finanzkrise. Die Vorboten waren dabei schon lange vor dem Aufkommen der Subprime-Probleme in den USA erkennbar. Denn auf Grund buchhalterischer Neuerungen waren die Bilanzen vieler Finanzinstitutionen nicht nur für den Laien, sondern bald auch für die Verwaltungsräte vieler Banken zu einem Buch mit sieben Siegeln geworden. Dabei entgingen dem prüfenden Auge vor allem die riesigen Verschuldungsverhältnisse, die schliesslich in die Katastrophe führten. Diese Problematik verbunden mit der hohen Liquidität, die es damals an den Kapitalmärkten sozusagen frei Haus gab, führte schliesslich im Nu zum toxischen Cocktail, der grossen Teilen der Finanzbranche gar nicht gut bekam.

Die Tatsache, dass das Bankensystem und letztlich das globale Finanzsystem diese Krise doch überwinden konnte, führen viele Beobachter auf das orchestrierte Agieren der US-Notenbank sowie auf die amerikanische Regierung zurück. Man kann diese Entwicklung jedoch auch anders auslegen: Dass nämlich zumindest das Schweizer System solid genug war und die Qualität der Vermögen in der Schweiz so hoch war, dass sie nicht einfach wegbrachen. Und dies trotz einer weltweiten Politik des billigen Geldes, mit der man die Produktivität zu steigern glaubte, um so die Wahl-Versprechen vieler Politiker zu erfüllen.

«Finanzleute werden dafür bezahlt, dass sie Risiken zu nehmen»

Drei Krisen in weniger als zwei Jahrzehnten haben das Schweizer Finanzsystem in seinen Grundfesten erschüttern. Dreimal liessen sich daraus Lehren ziehen. Darum hat sich auch die Fehlermarge jedesmal etwas verringert, und die Schweizer Finanzbranche steht heute effizient da. Sie wird auch mit der Über-Regulierung fertig werden. Aber sie darf sich auf keinen Fall in einer vollkommenen Sicherheit wähnen.

Die Vertreter des hiesigen Finanzplatzes sollten wieder mehr ihrem eigenen Urteilsvermögen vertrauen und auf ihre Integrität achten. Eine allzu strikte «Formular-Gläubigkeit» und die Haltung, mit so genannten PEPs, also politisch exponierten Personen, immer häufiger keine Geschäfte mehr machen zu wollen, könnten nicht die Voraussetzung für einen Neuanfang sein. «Finanzleute werde dafür bezahlt, dass sie Risiken nehmen, und sie werden dabei auch immer wieder Fehler begehen», brachte es Sergio Ermotti, der Konzernchef der heutigen UBS, unlängst auf den Punkt.

«Das sind Werte, die man an keiner Hochschule lernen kann»

Integrität ist ein Bestandteil des menschlichen Charakters, und die Kultur der Schweiz hält diesen Wert auch noch immer hoch. Urteilsvermögen ist eine weitere Fähigkeit, die man über die Jahre und dank seiner Erfahrungen erwirbt – indem man nachdenkt, analysiert und schliesslich handelt.

Das sind Werte, die man sich nicht an einer Hochschule aneignen kann. Es sind eher Bestandteile des gesunden Menschenverstands. Kurzum: Die Schweiz ist gut positioniert; doch politische, diplomatische und auch unternehmerische Orientierungslosigkeit können die Privilegien des Landes jederzeit wieder beeinträchtigen.


Der 68-jährige Italiener Rudi Bogni lebt heute in London und Basel. Er startete seine Bankkarriere in den frühen 1970er-Jahren bei der Chase Manhattan Bank. Er war Schatzmeister der Midland Bank und schliesslich CEO für das Private Banking der UBS. In der Vergangenheit war er auch SID of Old Mutual, Sachverwalter der Bruno-Kessler-Stiftung sowie des Common Purpose Charitable Trusts und unabhängiger Verwaltungsrat der Ratingagentur Moody's (in Grossbritannien, Frankreich und Deutschland).  

Er ist zudem Verwaltungsratspräsident der britischen Firma Northill UK, Verwaltungsrat der Waypoint Capital Holdings und Sachverwalter der Prinz Liechtenstein Stiftung der LGT Group. Er ist überdies Mitglied des Führungsgremiums des CSFI (Centre for the Study of Financial Innovation), Mitglied des Beratungsausschusses der Oxford Analytica sowie des Council of Shakespeare’s Globe Theatre. Er ist ein Mitglied des Securities Institute of the London Mathematical Society sowie der Vereinigung Basler Ökonomen.