Es müssen keine «Digital Nerds», also Unternehmer unter 40 Jahre sein, welche die Digitalisierung in traditionelle Firmen bringen, findet Guido Schilling in seinem Essay auf finews.first.
Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. Die Auswahl der Texte liegt bei finews.ch.
Bis 2015 sprach man noch von der Industrie 4.0 und der digitalen Transformation, heute ist sie für viele Branchen Realität. Die meisten Unternehmen sind dabei mit rasanten technischen Veränderungen konfrontiert, sei es durch den Margenzerfall in etablierten Geschäftsfeldern oder durch den Eintritt neuer Marktteilnehmer mit digitalen Geschäftsmodellen. Zugleich bietet die Digitalisierung Chancen, das eigene Unternehmen gegenüber den Kunden wie auch intern neu aufzustellen.
Diese Transformation fordert das Management, aber auch den Verwaltungsrat, denn letzterem obliegt die nicht delegierbare Oberleitung des Unternehmens. Er muss strategische Risiken erkennen und frühzeitig Gegensteuer geben, um die Profitabilität der Firma nachhaltig zu sichern.
Es ist klar: Dafür braucht es heutzutage ein profundes Bewusstsein für die Veränderungen an Geschäftsmodell und Organisation, welche die digitale Transformation mit sich bringt. Nur so kann der Verwaltungsrat der Geschäftsleitung ein guter Sparringspartner bei der Weiterentwicklung des Unternehmens sein. Doch wer bringt die notwendige Kompetenz in den Verwaltungsrat ein?
«Zahlreiche Fachleute fordern eine Verjüngung und Digitalisierung der Verwaltungsräte»
Drei Strategien stehen im Fokus: Der Verwaltungsrat kann neue, digital-affine Mitglieder aufnehmen, einen digitalen Beirat einsetzen oder bestehende Mitglieder weiterbilden.
Mit welcher Variante Verwaltungsräte die besten Resultate erzielen, hängt von den Startbedingungen ab: Welche Kompetenzen vereint der Verwaltungsrat bereits auf sich, und wie gross ist der Spielraum für personelle Wechsel? Wie intensiv ist die Zusammenarbeit von Geschäftsleitung und Verwaltungsrat? Wie fit ist die Geschäftsleitung in Bezug auf die Digitalisierung? Wie gross ist das Unternehmen, wie traditionell ist es aufgestellt?
In jüngster Zeit hat die erste Variante viel Beachtung erhalten: Zahlreiche Fachleute fordern in den Medien eine Verjüngung und Digitalisierung der Verwaltungsräte; erfolgreichen Startup-Gründern solle der Weg in die Aufsichtsgremien stärker geöffnet werden. Für Unternehmen mit einer modernen Arbeitskultur kann das die richtige Wahl sein; gesetzt den Fall, dass die Persönlichkeit des Gründers zum jeweiligen Unternehmen passt.
«Veränderungen umzusetzen, dauert seine Zeit»
Zweifellos haben erfolgreiche Startup-Gründer unternehmerisches Geschick an den Tag gelegt und viele Erfahrungen gesammelt, die auch in einem Verwaltungsrat von Nutzen sein können. Viele von ihnen überzeugten vor allem im Umsetzen einer forschen Wachstumsstrategie, also in der konsequenten Suche nach dem «Hockey Stick Growth». Auch ihr breites Wissen um die grossen digitalen Trends und allfällige Erfahrung mit IT-Projekten sind durchaus hilfreich.
Ich bin jedoch überzeugt, dass es in vielen Fällen keine «Digital Nerds», also Digitalunternehmer unter 40 Jahre, sein müssen, welche die Digitalisierung in traditionellen Firmen vorantreiben. Entscheidend ist, wie gross die von ihnen geleiteten Unternehmen waren: 50 hochmotivierte High-Potentials in einem Startup zu führen ist eine ganz andere Herausforderung, als schwierige Veränderungsprozesse in einem traditionell aufgestellten 3’000-Personen-Unternehmen umzusetzen.
Wer noch nie im Topmanagement eines Grossunternehmens gearbeitet hat, dem fehlt das Verständnis für dessen Komplexität und geringere Manövrierbarkeit: Veränderungen umzusetzen, dauert seine Zeit. Zudem unterscheidet sich die Altersstruktur sowohl des Managements als auch der Belegschaft stark.
Entscheide müssen anders vorbereitet, kommuniziert und durchgesetzt werden als in jungen Betrieben, in welchen jeder jeden persönlich kennt. Die Gefahr besteht, dass ein Internet-of-Things-Guru zwar wohlklingende Ideen in den Verwaltungsrat einbringt, sich diese aber in der Praxis nicht umsetzen lassen.
«Vielen Unternehmern fehlt ganz einfach die Zeit für ein Verwaltungsratsmandat»
Zudem befinden sich viele 30- bis 50-Jährige in einer sehr intensiven Karrierephase, in welcher sie rasch neue Kompetenzen und Erfahrungen aufbauen und beruflich viel unterwegs sind. Vielen fehlt daher die Zeit für ein Verwaltungsratsmandat. Wichtig sind Flexibilität und zeitliche Verfügbarkeit insbesondere in anspruchsvollen Phasen der Veränderung, die eine intensivere Kooperation innerhalb des Gremiums sowie zwischen Verwaltungsrat und Geschäftsleitung erfordern.
Darüber hinaus sind gut vernetzte, jüngere Unternehmer, die über das nötige Kompetenzprofil verfügen, wegen möglicher Interessenkonflikte oft nicht wählbar.
Für jüngere und digital besser aufgestellte Verwaltungsratsmitglieder wird das Argument eingebracht, dass Diversity – auch in Bezug auf das Alter – grundsätzlich von Nutzen sei. Heterogene Gruppen diskutierten gründlicher und würden Risiken besser erkennen, weil sie unterschiedliche Perspektiven in eine Diskussion einbringen.
«Krisen und Brüche gibt es beileibe nicht erst seit der Blockchain»
Eine stärkere Durchmischung kostet jedoch auch etwas: Es braucht Zeit, Neumitglieder einzuarbeiten, insbesondere wenn sie aus einer ganz anderen Kultur und Branche stammen. Ein Verwaltungsrat verliert viel Zeit, wenn er die grundsätzlichen Fragen stets aufs Neue klären muss.
Oftmals ist es lohnenswerter, mit digitalen Vordenkern gezielt spezifische Themen zu bearbeiten. Nicht vergessen sollte man zudem, dass sich Diversity oder Komplementarität eben auch auf die Persönlichkeiten und deren Leistungsspektrum bezieht.
Die digitale Transformation verlangt in erster Linie nach Personen, die Erfahrung mitbringen im Umgang mit Veränderungsprozessen und sich durch besonnene Entscheide unter Ungewissheit hervorgetan haben. Krisen und Brüche gibt es nicht erst seit der Blockchain.
«Ein Paar ruhige Hände ist da Gold wert»
Die Schweizer Wirtschaft durchlebte Währungskrisen wie den jüngsten Frankenschock, die Globalisierung, die Ölkrisen der 1970er-Jahre, dazu branchenspezifische Brüche wie sie die Uhrenindustrie seinerzeit in der Quarzkrise oder zuletzt wegen der Umsatzflaute in China erlebt hat.
Diese Brüche stellten Unternehmen schon immer vor existenzielle Weggabelungen, an denen ein umsichtiger Verwaltungsrat für eine Firma unentbehrlich ist: Er muss in enger Zusammenarbeit mit dem Management parallel neue Geschäftsfelder entwickeln und bestehendes Business neu aufstellen und stabilisieren – eine Operation am lebenden Körper, ohne Betäubung. Ein Paar ruhige Hände ist da Gold wert.
Einen tiefgreifenden Wandel eines Unternehmens zu verantworten erfordert nicht nur technische, sondern auch organisatorische und soziale Kompetenzen.
Denn bei einer strategischen Neuausrichtung stellen sich die Schwierigkeiten unmittelbar ein, die Früchte der Arbeit erst in der fernen Zukunft. Gefragt sind daher viel Kommunikation, Einfühlungsvermögen und Aufrichtigkeit, auch von einem Verwaltungsrat. Das ganze Gremium braucht zudem ein gutes Händchen bei der Auswahl der Schlüsselpersonen, welche die Transformation im Management operativ leiten müssen.
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Guido Schilling trat 1987 als Partner in das 1980 gegründete Executive-Search-Unternehmen ein, das heute als guido schilling ag firmiert. Dank dieser mehr als 25-jährigen Tätigkeit im Executive Search prägte er diese Branche entscheidend mit. Er besitzt einen Abschluss als Betriebsökonom. Einen Beitrag für mehr Transparenz im Top-Management leistet Schilling mit dem jährlichen «schillingreport», der seit 2006 erscheint und die 100 grössten Schweizer Unternehmen bezüglich ihrer Führungsorgane untersucht.
Schilling ist zudem Gründer, Vorsteher und Mitglied zahlreicher Organisationen. So war er Initiator und Gründungspräsident des Rotary Clubs Zürich Turicum. In seiner Freizeit engagiert er sich unter anderem als Verwaltungsratspräsident der Maag Music & Arts in Zürich. Unter seiner Ägide entstanden so erfolgreiche Schweizer Musicals wie «Ewigi Liebi», «Deep» und «Space Dream».
Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Oliver Berger, Rolf Banz, Samuel Gerber, Werner Vogt, Walter Wittmann, Alfred Mettler, Robert Holzach, Craig Murray, David Zollinger, Arthur Bolliger, Beat Kappeler, Chris Rowe, Stefan Gerlach, Marc Lussy, Samuel Gerber, Nuno Fernandes, Beat Wittmann, Richard Egger, Dieter Ruloff, Marco Bargel, Steve Hanke, Urs Schoettli, Maurice Pedergnana, Stefan Kreuzkamp, Oliver Bussmann, Michael Benz, Albert Steck, Andreas Britt, Martin Dahinden, Thomas Fedier, Alfred Mettler, Brigitte Strebel, Peter Hody, Mirjam Staub-Bisang, Guido Schilling, Adriano Lucatelli, Nicolas Roth, Thorsten Polleit, Kim Iskyan, Stephen Dover, Denise Kenyon-Rouvinez, Christian Dreyer, Peter Kurer, Kinan Khadam-Al-Jame, Werner E. Rutsch, Robert Hemmi, Claude Baumann, Anton Affentranger, Yves Mirabaud, Katharina Bart, Frédéric Papp, Hans-Martin Kraus, Gérard Guerdat, Didier Saint-Georges, Mario Bassi und Stephen Thariyan, Dan Steinbock, Rino Borini, Bert Flossbach und Michael Hasenstab.