Zu behaupten, dass sich das Blatt in nur sechs Monaten gewendet habe, würde zu kurz greifen. Denn die gegenwärtigen Turbulenzen sind lediglich eine Begleiterscheinung der seit Jahren identifizierten strukturellen Missstände, schreibt Nadège Lesueur-Pène in ihrem Beitrag auf finews.first.


In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


Wird das erste Halbjahr dieses Jahres als ein Wendepunkt in Erinnerung bleiben? Man könnte es fast meinen, nimmt man den Gemütszustand im vergangenen Winter zum Massstab.

Alle Welt freute sich, dank der Impfkampagnen der Pandemie den Rücken zu kehren. Nach einer kräftigen globalen Konjunkturerholung schien die Rückkehr zur Normalität eine beschlossene Sache. Die Aktienmärkte gingen auf Höhenflug, unbeeindruckt von den Problemen in den Lieferketten und den ersten Preissteigerungen.

Doch in wenigen Monaten erschütterten mehrere aufeinanderfolgende Krisen diese Gewissheit. Dann kletterte die Inflation auf rekordträchtige Niveaus, angeheizt durch den Ukraine-Konflikt. Als Folge davon geht nun wieder das Schreckgespenst einer Rezession in Europa um. Neue geopolitische Spannungen verschärfen bestehende Konflikte, und sorgen zusammen mit extremen Wetterereignissen für massive Preisanstiege von Nahrungsmitteln und Dünger.

«Seit Anfang Jahr zahlen die Börsen einen hohen Preis in Form von heftigen Korrekturbewegungen.»

Den verletzlichen Entwicklungsländern droht eine verheerende Ernährungskrise, welche die Energieknappheit überlagert. Darüber hinaus untergräbt die wachsende Nachsicht gegenüber Populismus und Nationalismus das demokratische Gleichgewicht in zahlreichen Staaten. Die Pandemie meldet sich mit neuen Varianten zurück und weckt neue Befürchtungen zur konjunkturellen Entwicklung Chinas. Seit Anfang Jahr zahlen die Börsen einen hohen Preis in Form von heftigen Korrekturbewegungen.

Zu behaupten, dass sich das Blatt in nur sechs Monaten gewendet hat, würde zu kurz greifen. Denn die gegenwärtigen konjunkturellen Turbulenzen sind lediglich eine Begleiterscheinung der seit Jahren identifizierten strukturellen Missstände. Die Energiewende, die Dekarbonisierung, die technologische Revolution und die Notwendigkeit, sich für eine inklusive Wirtschaft zu engagieren, sind ebenso wichtige Herausforderungen für unsere Volkswirtschaften. Die gängigen Entwicklungsmodelle, die während dreissig Jahren unseren Wohlstand sicherten, stossen heute an ihre Grenzen.

«Wir befinden uns in einer in der Geschichte der Menschheit nie dagewesenen Situation»

Die Ära der Globalisierung, initiiert durch den Mauerfall in Berlin und das Ende des Kalten Krieges, ausgeweitet durch die Aufnahme internationaler Beziehungen mit China (und seinem Beitritt zur WTO Ende 2021), haben ein nie gekanntes, vom Finanzsystem weitgehend mitgefördertes Wachstum gebracht.

Leider wurde dieser weltweite Rückgang der Armut manchmal von grösseren Ungleichheiten begleitet. Der Klimawandel und der Verlust der Biodiversität führen uns vor Augen, dass wir uns dringendst darum sorgen müssen, welche Auswirkungen unser Handeln für die Umwelt hat und unser Wachstumsmodell zu hinterfragen.

Wir befinden uns in einer in der Geschichte der Menschheit nie dagewesenen Situation, dass wir die konjunkturellen und strukturellen Probleme in einem von grosser Unsicherheit geprägten Umfeld schnellstens lösen müssen. Die Erkenntnis, dass unser bisheriges Modell ausgedient hat, lässt uns zugleich an der Fähigkeit des internationalen Systems zweifeln, gemeinsame Regeln festzulegen. Man denke nur an die holprige Umsetzung des Pariser Abkommens oder die festgefahrenen Verhandlungen im Sicherheitsrat der Uno.

«Es besteht die Gefahr einer Fragmentierung der Kräfte»

Aufgrund der geschwächten Weltordnung könnte die Lösungssuche eine ungeordnete «Deglobalisierung» zur Folge haben. Neue Abkopplungsstrategien und staatliche Interventionen treten in immer mehr «sensiblen» Bereichen auf, um Abhängigkeiten, die zu potenziellen Schwachstellen werden könnten, gezielt zu reduzieren. Gewisse Lösungsansätze sind durchaus stichhaltig. Es besteht aber die Gefahr einer Fragmentierung der Kräfte, während die aktuellen Herausforderungen ein kollektives Vorgehen verlangen.

Dank ihrer zentralen Position in Europa und der Stadt Genf, Zentrum für internationale Zusammenarbeit, zeichnet sich die Schweiz durch ihre Resilienz aus. Ihre aussergewöhnliche Position und die Stärke des Franken erklären auch zu einem grossen Teil die gute Entwicklung ihrer Börse verglichen mit anderen Finanzmärkten.

«Und die Schweiz kann schliesslich auf die Stabilität ihres Finanzplatzes zählen»

Seit 2011 führt die Schweiz jedes Jahr den «Global Innovation Index» der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) an, ein Zeichen dafür, dass sich Humankapital und technologische Innovation miteinander vereinbaren lassen. Dank der technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne sticht sie in der Datenwissenschaft hervor und ist in der Tokenisierung von Vermögenswerten eine Länge voraus.

Ein starker Franken und qualifizierte Arbeitskräfte stimulieren die Forschung und Innovation in einheimischen Unternehmen. Als historischer Handelsplatz verfügt die Schweiz über eine privilegierte Position, um die Entwicklungen in den Bereichen Rohstoffe und Frachtverkehr zu analysieren und antizipieren.

Und schliesslich kann die Schweiz auf die Stabilität ihres Finanzplatzes zählen, der sich sein Wachstumspotenzial trotz zunehmender Regulierungsdichte, Digitalisierung und Coronakrise erhalten konnte. Die Schweizer Banken sind bereit, bei der Dekarbonisierung der Wirtschaft mitzuwirken.

«Trotz steigendem Margendruck haben die Banken alle Karten in der Hand, um künftige Hürden zu überwinden»

Ein Beweis dafür ist der Boom von nachhaltigen Anlagen, wie die Branchenorganisation Swiss Sustainable Finance (SSF) in ihrem jüngsten Bericht festhält. Trotz steigendem Margendruck haben die Banken alle Karten in der Hand, um künftige Hürden zu überwinden.

Die Schweiz – und besonders der Bankensektor – vereinigt Tradition mit Modernität, weshalb sie dank der Stabilität ihrer Institutionen und Gesellschaft, ihren humanistischen und umweltbewussten Leitwerten und ihrer Innovationskraft in der Lage sein wird, die Herausforderungen, die mit den kommenden Umwälzungen einhergehen, zu bewältigen.


Nadège Lesueur-Pène stiess 2015 zur Union Bancaire Privée (UBP) und leitete die Teams für die Vermögensverwaltung in den Schwellenländern und Osteuropa, bevor sie Leiterin des Bereichs Wealth Management – Developing Markets and Europe wurde, der insbesondere Genf, Portugal, Monaco, Osteuropa, den Nahen Osten und Lateinamerika umfasst. Sie arbeitet von Genf aus und ist zudem Mitglied des Executive Committee.

Sie begann ihre Karriere bei Paribas in Moskau als stellvertretende Leiterin der Repräsentanz. Nach fünf Jahren bei HSBC in Paris im Bereich internationale Finanzierungen kehrte sie zur BNP Paribas Gruppe zurück, diesmal in die Schweiz, wo sie zunächst im Bereich strukturierte Finanzierungen und dann im Wealth Management tätig war. Sie hat einen Bachelor- und einen Master-Abschluss in russischer Philologie, einen Doppel-Master-Abschluss in internationalem Management und studierte Sowjetologie an der Sciences Po Paris.


Bisherige Texte von: Rudi BogniRolf BanzWerner VogtWalter WittmannAlfred Mettler, Robert HolzachCraig MurrayDavid ZollingerArthur BolligerBeat KappelerChris RoweStefan GerlachMarc Lussy, Nuno FernandesRichard EggerDieter RuloffMarco BargelSteve HankeUrs Schoettli, Maurice PedergnanaStefan Kreuzkamp, Oliver BussmannMichael BenzAlbert Steck, Martin DahindenThomas FedierAlfred MettlerBrigitte Strebel, Mirjam Staub-Bisang, Kim IskyanStephen DoverDenise Kenyon-RouvinezChristian DreyerKinan Khadam-Al-JameRobert HemmiAnton AffentrangerYves Mirabaud, Hans-Martin KrausGérard Guerdat, Mario BassiStephen ThariyanDan SteinbockRino BoriniBert FlossbachMichael HasenstabGuido SchillingWerner E. RutschDorte Bech VizardAdriano B. Lucatelli, Maya BhandariJean TiroleHans Jakob RothMarco Martinelli, Thomas Sutter, Tom King, Werner PeyerThomas KupferPeter Kurer, Arturo Bris, Frédéric Papp, James Syme, Dennis Larsen, Bernd Kramer, Marionna Wegenstein, Armin JansNicolas Roth, Hans Ulrich Jost, Patrick Hunger, Fabrizio QuirighettiClaire Shaw, Peter FanconiAlex Wolf, Dan Steinbock, Patrick Scheurle, Sandro Occhilupo, Will Ballard, Nicholas Yeo, Claude-Alain Margelisch, Jean-François Hirschel, Jens Pongratz, Samuel Gerber, Philipp Weckherlin, Anne Richards, Antoni Trenchev, Benoit Barbereau, Pascal R. Bersier, Shaul Lifshitz, Ana Botín, Martin Gilbert, Jesper Koll, Ingo Rauser, Carlo Capaul, Markus Winkler, Konrad Hummler, Thomas Steinemann, Christina Böck, Guillaume Compeyron, Miro Zivkovic, Alexander F. Wagner, Eric Heymann, Christoph Sax, Felix Brem, Jochen Möbert, Jacques-Aurélien Marcireau, Ursula Finsterwald, Michel Longhini, Stefan Blum, Nicolas Ramelet, Søren Bjønness, Gilles Prince, Shanu Hinduja, Salman Ahmed, Peter van der Welle, Ken Orchard, Christian Gast, Jürgen Braunstein, Jeffrey Vögeli, Fiona Frick, Stefan Schneider, Matthias Hunn, Andreas Vetsch, Mark Hawtin, Fabiana Fedeli, Marionna Wegenstein, Kim Fournais, Carole Millet, Swetha Ramachandran, Thomas Stucki, Neil Shearing, Claude Baumann, Tom Naratil, Oliver Berger, Robert Sharps, Tobias Müller, Florian Wicki, Jean Keller, Niels Lan Doky, Karin M. Klossek, Johnny El Hachem, Judith Basad, Katharina Bart, Thorsten Polleit, Bernardo Brunschwiler, Peter Schmid, Karam Hinduja, Zsolt Kohalmi, Raphaël Surber, Santosh Brivio, Mark Urquhart, Olivier Kessler, Bruno Capone, Peter Hody, Andrew Isbester, Florin Baeriswyl, Agniszka Walorska, Thomas Müller, Ebrahim Attarzadeh, Marcel Hostettler, Hui Zhang, Reto Jauch, Angela Agostini, Guy de Blonay, Tatjana Greil Castro, Jean-Baptiste Berthon, Dietrich Grönemeyer, Mobeen Tahir, Didier Saint-Georges, Serge Tabachnik, Vega Ibanez, David Folkerts-Landau, Andreas Ita, Teodoro Cocca, Michael Welti, Mihkel Vitsur, Roman Balzan, Todd Saligman, Christian Kälin, Stuart Dunbar, Carina Schaurte, Birte Orth-Freese, Gun Woo, Lamara von Albertini, Philip Adler, Ramon Vogt, Andrea Hoffmann, Niccolò Garzelli, Darren Williams, Benjamin Böhner, Mike Judith, Jared Cook, Henk Grootveld, Roman Gaus, Nicolas Faller, Anna Stünzi, Thomas Höhne-Sparborth, Fabrizio Pagani, Taimur Hyat, Ralph Ebert, Guy de Blonay, Jan Boudewijns, Sean Hagerty und Alina Donets, Sébastien Galy, Roman von Ah, Fernando Fernández, Georg von Wyss, Stéphane Monier, Beat Wittmann, Stefan Bannwart, Andreas Britt, Frédéric Leroux, Nick Platjouw, Rolando Grandi, Philipp Kaupke, Gérard Piasko, Brad Slingerlend, Dieter Wermuth, Grégoire Bordier, Thomas Signer, Brigitte Kaps, Gianluca Gerosa, Michael Bornhäusser, Lars Jaeger, Christine Houston, Manuel Romera Robles, Fabian Käslin, Claudia Kraaz, Marco Huwiler und Lukas Zihlmann.