Verschuldung, Digitalisierung und Klima. Die grössten Herausforderungen, denen die Zentralbanken ausgesetzt sind, widerspiegeln bloss die Herausforderungen unserer Gesellschaft, schreibt Fabrizio Pagani in seinem exklusiven Beitrag für finews.first.


In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen


Das Zentralbankwesen steht vor drei drängenden Herausforderungen: Verschuldung, Digitalisierung und Klima. Angesichts dieser Herausforderungen dürften die Notenbanken ihre Geldpolitik und die Rolle des Zentralbankwesens in der Wirtschaft und der Gesellschaft insgesamt verändern.

Seit der Finanzkrise von 2007/2008 haben sie das geldpolitische Instrumentarium durch die Einführung neuer unkonventioneller Instrumente und die Weiterentwicklung bestehender Instrumente bereits bereichert. Unter den unkonventionellen Massnahmen sticht die quantitative Lockerung hervor. Wichtige Zentralbanken haben in den Jahren nach der Finanzkrise quantitative Lockerung betrieben und als Reaktion auf die Covid-19-Pandemie weiter massiv auf diese zurückgegriffen.

So auch die Federal Reserve (Fed), die Europäische Zentralbank (EZB), die Bank of England und die Bank of Japan. In den vergangenen zehn Jahren sind die Zentralbankbilanzen dramatisch gewachsen. So belief sich der Betrag der vom Eurosystem über seine verschiedenen Programme (APP und PEPP) gekauften Anleihen Mitte April 2021 auf rund 4‘000 Milliarden Euro.

«Die Verschuldung wirft existenzielle Fragen auf»

Mehr als 75 Prozent der von der EZB gehaltenen Wertpapiere sind Staatsanleihen, deren Ankauf in erheblichem Umfang bis mindestens Ende März 2022 fortgesetzt wird. So schwillt ihre Bilanz weiter an. Ebenfalls im April 2021 beliefen sich die im Besitz der Fed befindlichen Vermögenswerte auf mehr als 7‘700 Milliarden Dollar. Das entspricht einer beeindruckenden Verneunfachung seit Anfang 2008. Die EZB und die Fed werden am Ende zwischen 25 Prozent und 30 Prozent der Schulden ihrer Regierungen besitzen, die Bank of Japan über 40 Prozent.

Diese Verschuldung wirft existenzielle Fragen auf, die weit über die Frage nach der Dauer der Verlängerung der aktuellen Kaufprogramme hinausgehen. Werden die Zentralbanken sie auf unbestimmte Zeit verlängern und möglicherweise die Laufzeit ausdehnen? Werden diese Schulden schliesslich unbefristet gemacht oder sogar gestrichen, wie vorgeschlagen wurde? Wird die EZB im Falle der EU nach und nach die nationalen Schulden durch supranationale ersetzen, die von der Kommission im Rahmen von Programmen wie der «Next Generation EU» ausgegeben werden?

«Es herrscht viel Verwirrung über die Definition der Digitalisierung des Geldes»

Jede Zentralbank hat ihr eigenes Mandat, ihre eigene Kultur und ihre eigenen Praktiken; diese Fragen können je nach Rechtsprechung zu möglicherweise engen, technischen Antworten führen. Es gibt jedoch eine allgemeine Fragestellung zur langfristigen Rolle der Zentralbanken angesichts der zunehmenden Staatsverschuldung und der steigenden Höhe der Staatsschulden, die sie besitzen. Vielleicht haben wir noch nicht den Zeitpunkt erreicht, diese vollständig zu beantworten.

In den vergangenen Jahren haben wir eine Beschleunigung der Digitalisierung in allen Bereichen der Wirtschaft und innerhalb der Gesellschaft im weiteren Sinne erlebt. Es findet eine technologische Revolution statt: Geld konnte davon nicht unberührt bleiben. In der Tat ist es nicht das erste Mal, dass Geld eine radikale technologische Transformation durchläuft. Jede Transformation, wie von Goldmünzen zu Banknoten, hatte ihre eigenen Herausforderungen.

Es herrscht viel Verwirrung über die genaue Definition der Digitalisierung des Geldes. Es handelt sich um einen Begriff, der verschiedene Phänomene umfasst, wie elektronische Zahlungssysteme – die erfolgreichsten Systeme sind dabei die digitalen Geldbörsen von Chinas WeChat und Alipay – , die aufkommende Reihe von Fiat-Kryptowährungen, wie der beliebte Bitcoin und Stablecoins auf Blockchain, und die Möglichkeit, dass Zentralbanken digitale Währungen ausgeben.

«Die Realität ist komplexer»

Zentralbanken und Regierungen auf der ganzen Welt erwägen die Einführung von digitalen Zentralbankwährungen (CBDC). Seit einiger Zeit versucht die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), Klarheit zu schaffen und eine erste Taxonomie zu erstellen. Zentralbanker sind bestrebt, den Unterschied zwischen CBDCs und Kryptowährungen zu betonen, die sie lieber als Krypto-Assets bezeichnen.

Wir glauben, dass sich eine «offizielle» Betrachtungsweise herausbildet, die digitale Währungen im Grossen und Ganzen als von einer zentralen Behörde abhängig und mit einer physischen Währung, wie dem Dollar oder dem Euro, verbunden sieht. Im Gegensatz dazu werden Kryptowährungen näher an Investitionen als an Geld betrachtet und werden dezentral von privaten Akteuren «gemint» oder «produziert».

Die Realität jedoch ist komplexer. Die Entwicklung privater Währungen ist möglich – Bitcoin könnte bald von bestimmten Unternehmen als Zahlungsmittel akzeptiert werden. Das dystopische Risiko der Fragmentierung, Vervielfältigung und Konkurrenz von Währungen könnte bald real werden, ebenso wie die Möglichkeit der Schaffung von privat gesponserten internationalen digitalen Währungsräumen über nationale Grenzen hinweg.

Angesichts dieser Bedrohung, aber auch mit der Möglichkeit, neue Instrumente zur Erfüllung ihrer Aufgaben zu nutzen, erforschen Zentralbanken aktiv, ob und wie sie digitale Währungen schaffen können. Ein kürzlich von der EZB veröffentlichter Bericht über einen digitalen Euro ist ein überzeugendes Argument für dessen Weiterverfolgung.

«Die Digitalisierung der Währungen eröffnet ein ganzes Reich an Möglichkeiten»

Die Herausforderung für Zentralbanken wird darin bestehen, die sich schnell entwickelnden digitalen Technologien mit dem aus ihrem Mandat abgeleiteten Stabilitätsauftrag zu verbinden. Es ist viel Vorarbeit nötig und es gibt zahlreiche Fragen zu klären, wie Zugang, Datenschutz, Sicherheit, Anti-Geldwäsche, mögliche Nutzungsbeschränkungen, Vergütung usw.

Die Digitalisierung der Währungen eröffnet ein Reich an Möglichkeiten und ihre Einführung könnte weitreichende Auswirkungen haben. Die Geldpolitik beispielsweise könnte sich verändern. Betrachtet man die CBDC-Vergütung, könnten die Auswirkungen vielfältig sein. Zum Beispiel:

  • die Übertragung der Zinssätze auf die Einlagenzinsen der Haushalte könnte direkter werden;
  • der Fall für negative Zinssätze, was Ökonomen das «Zero-Low-Bound-Problem» nennen, könnte verschwinden
  • die Vergütung könnte gestaffelt werden, wobei in verschiedenen Fällen unterschiedliche Zinssätze gelten würden.

Zum letztgenannten Punkt, der faszinierende politische Wege eröffnen könnte, schreibt die EZB, dass CBDC «dem Euro-System erlauben würde, weniger attraktive Zinssätze für grosse Bestände an digitalen Euro oder für Bestände ausländischer Investoren zu zahlen, um von einer exzessiven Nutzung des digitalen Euro als Anlage abzuschrecken oder um das Risiko zu mindern, grosse internationale Investitionsströme anzuziehen».

«In diesem unsicheren Umfeld müssen Zentralbanken und Regierungen schnell handeln»

Offensichtlich wird auch das Bankensystem stark betroffen sein, unter anderem mit der Möglichkeit eines drastischen Bedeutungsverlustes der Geschäftsbanken als Intermediäre. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat noch keine der grossen Zentralbanken eine endgültige Entscheidung über die Ausgabe von CBDC getroffen.

In diesem sich verändernden und unsicheren Umfeld müssen Zentralbanken und Regierungen schnell handeln und reagieren, wenn sie ihre geldpolitische Souveränität bewahren wollen. Vielleicht werden CBDCs zu einer unausweichlichen Notwendigkeit, abgesehen davon, dass sie nützliche Werkzeuge sind.

Der Klimawandel ist eine grosse Bedrohung für die Menschheit. Seine Auswirkungen auf wirtschaftliche Aktivitäten dürfen nicht unterschätzt werden. Die Bekämpfung des Klimawandels scheint weit jenseits des Aufgabenbereichs von Zentralbanken zu liegen. Der Klimawandel hat jedoch Auswirkungen auf die Wirtschaft, auch auf die Finanz- und sogar die Preisstabilität. Es besteht daher ein wachsender Konsens darüber, dass die Zentralbanken, ohne die Hauptakteure zu sein, eine Rolle in der Klimabewegung spielen müssen.

Diese Rolle, die von vielen als Teil der Mobilisierung der gesamten Gesellschaft gegen den Klimawandel befürwortet wird, könnte sich über die Geldpolitik, die Finanzstabilität, die aufsichtsrechtliche Regulierung und die Beaufsichtigung erstrecken.

«Die People's Bank of China hat einen ähnlichen Mechanismus eingeführt»

Die EZB hat 2019 eine Strategieüberprüfung eingeleitet und den Klimawandel in die Liste der zu behandelnden Themen aufgenommen. Die Überprüfung ist noch nicht abgeschlossen, aber die EZB ergreift bereits einige Massnahmen im Rahmen ihrer Bankenaufsichtsfunktionen, um klimabezogene Risiken einzudämmen – auf der monetären Seite und in ihrem nicht-monetären Politikportfolio – und um den Kampf gegen den Klimawandel zu erleichtern. Insbesondere sind seit Anfang 2021 Anleihen mit Kupons, die an Nachhaltigkeitsziele gekoppelt sind, als Zentralbanksicherheiten für Kreditgeschäfte des Eurosystems und für Programme zum Ankauf von Vermögenswerten zugelassen.

Die People's Bank of China hat einen ähnlichen Mechanismus eingeführt. Eine härtere Gangart hat die schwedische Riksbank eingeschlagen, die seit Januar 2021 die Möglichkeit hat, bei ihren Käufen von Unternehmensanleihen ein Negativscreening anzuwenden und Anleihen von Emittenten auszuschliessen, die gewisse Nachhaltigkeitsstandards nicht einhalten.

«Es gibt starke Spannungen rund um die traditionellen Mandate der Zentralbanken»

Auch in diesem Fall müssen die Zentralbanken neue Wege finden, die es ihnen erlauben, materielle Massnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen, ohne ihre Marktneutralität zu gefährden oder ultra vires zu gehen.

Es gibt starke Spannungen rund um die traditionellen Mandate der Zentralbanken. Diese Spannungen ziehen sich durch die unkonventionellen geldpolitischen Instrumente, die seit der Grossen Finanzkrise eingesetzt werden, durch die rasanten technologischen Entwicklungen, die das Wesen des Geldes verändern, und durch die Rolle, die die Gesellschaft von den Zentralbanken bei der Bekämpfung des Klimawandels erwartet.

Sie sind gewissermassen Zeugnis für die immer relevantere Rolle, die die Zentralbanken in unseren Volkswirtschaften einnehmen. Die Perspektive der Zentralbanken erweitert sich de facto über die Finanzmärkte und das Bankwesen hinaus, und die Gesellschaften scheinen sich mit dieser neuen Rolle immer wohler zu fühlen.

Die ultimative Herausforderung wird darin bestehen, diese neuen Funktionen miteinander in Einklang zu bringen und dabei die volle Glaubwürdigkeit zu bewahren, indem die Zentralbanken im Rahmen ihrer Mandate handeln. Letztlich spiegeln die Herausforderungen, denen sich die Zentralbanken gegenüberstehen, die Herausforderungen unserer Gesellschaft wider.


Fabrizio Pagani stiess Mitte 2018 als Global Head of Economics and Capital Markets Strategy zum Asset Manager Muzinich. Zuvor war er im öffentlichen Dienst tätig, zuletzt als Büroleiter des italienischen Finanzministers sowie als G20-Sherpa und Berater in Wirtschaftsfragen. Davor arbeitete er bei der OECD in Paris, wo er für die Arbeiten der OECD an den G20- und G8-Gipfeln nach der Finanzkrise verantwortlich war. Er besitzt einen Abschluss in Internationalen Angelegenheiten der Scuola S. Anna in Pisa und einen Master in Internationalem und Europäischem Recht des European University Institute.


Bisherige Texte von: Rudi BogniRolf BanzWerner VogtWalter WittmannAlfred Mettler, Robert HolzachCraig MurrayDavid ZollingerArthur BolligerBeat KappelerChris RoweStefan GerlachMarc Lussy, Nuno FernandesRichard EggerDieter RuloffMarco BargelSteve HankeUrs Schoettli, Maurice PedergnanaStefan Kreuzkamp, Oliver BussmannMichael BenzAlbert Steck, Martin DahindenThomas FedierAlfred MettlerBrigitte Strebel, Mirjam Staub-Bisang, Kim IskyanStephen DoverDenise Kenyon-RouvinezChristian DreyerKinan Khadam-Al-JameRobert HemmiAnton AffentrangerYves Mirabaud, Hans-Martin KrausGérard Guerdat, Mario BassiStephen ThariyanDan SteinbockRino BoriniBert FlossbachMichael HasenstabGuido SchillingWerner E. RutschDorte Bech VizardAdriano B. Lucatelli, Maya BhandariJean TiroleHans Jakob RothMarco Martinelli, Thomas Sutter, Tom King, Werner PeyerThomas KupferPeter Kurer, Arturo Bris, Frédéric Papp, James Syme, Dennis Larsen, Bernd Kramer, Marionna Wegenstein, Armin JansNicolas Roth, Hans Ulrich Jost, Patrick Hunger, Fabrizio QuirighettiClaire Shaw, Peter FanconiAlex Wolf, Dan Steinbock, Patrick Scheurle, Sandro Occhilupo, Will Ballard, Nicholas Yeo, Claude-Alain Margelisch, Jean-François Hirschel, Jens Pongratz, Samuel Gerber, Philipp Weckherlin, Anne Richards, Antoni Trenchev, Benoit Barbereau, Pascal R. Bersier, Shaul Lifshitz, Ana Botín, Martin Gilbert, Jesper Koll, Ingo Rauser, Carlo Capaul, Markus Winkler, Konrad Hummler, Thomas Steinemann, Christina Böck, Guillaume Compeyron, Miro Zivkovic, Alexander F. Wagner, Eric Heymann, Christoph Sax, Felix Brem, Jochen Möbert, Jacques-Aurélien Marcireau, Ursula Finsterwald, Claudia Kraaz, Michel Longhini, Stefan Blum, Nicolas Ramelet, Søren Bjønness, Lamara von Albertini, Andreas Britt, Gilles Prince, Darren Williams, Shanu Hinduja, Salman Ahmed, Stéphane Monier, Peter van der Welle, Ken Orchard, Christian Gast, Jürgen Braunstein, Jeffrey Vögeli, Fiona Frick, Stefan Schneider, Matthias Hunn, Andreas Vetsch, Mark Hawtin, Fabiana Fedeli, Marionna Wegenstein, Kim Fournais, Carole Millet, Swetha Ramachandran, Brigitte Kaps, Thomas Stucki, Neil Shearing, Claude Baumann, Tom Naratil, Oliver Berger, Robert Sharps, Tobias Müller, Florian Wicki, Jean Keller, Fabrizio Pagani, Niels Lan Doky, Karin M. Klossek, Ralph Ebert, Johnny El Hachem, Judith Basad, Katharina Bart, Thorsten Polleit, Bernardo Brunschwiler, Peter Schmid, Karam Hinduja, Zsolt Kohalmi, Raphaël Surber, Santosh Brivio, Gérard Piasko, Mark Urquhart, Olivier Kessler, Bruno Capone, Peter Hody, Andrew Isbester, Florin Baeriswyl, Agniszka Walorska, Thomas Müller, Ebrahim Attarzadeh, Marcel Hostettler, Hui Zhang, Michael Bornhäusser, Reto Jauch, Angela Agostini, Guy de Blonay, Lars Jaeger, Tatjana Greil Castro, Jean-Baptiste Berthon, Dietrich Grönemeyer, Mobeen Tahir, Didier Saint-Georges, Serge Tabachnik, Rolando Grandi, Vega Ibanez, Beat Wittmann, Carina Schaurte, David Folkerts-Landau, Andreas Ita, Teodoro Cocca, Michael Welti und Mihkel Vitsur.