Das vergangene Jahr war in vielen Belangen schmerzhaft, doch diese Krise sollte nicht verschwendet werden, schreibt Beat Wittmann in seinem Beitrag für finews.first und liefert zehn Denkansätze.


In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


1. Ideologische Polarisierung in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft nimmt zu

Die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung wird immer stärker ideologisch polarisiert und fragmentiert. Das stellt eine Gefahr für die Demokratie, das wirtschaftliche Wohlergehen und die globale Sicherheit und Nachhaltigkeit dar. Nur gegenseitiger Respekt für Individuen, Rechtsstaatlichkeit, Institutionen und Umwelt in einem friedlichen und prosperierenden multilateralen Rahmen können dies sicherstellen.

2. Konjunkturimpulse und Impfungen beschluenigen den Aufschwung

Das vergangene Jahr war in vielen Belangen gesehen schmerzhaft, doch diese Krise sollte nicht verschwendet werden. Wir können inzwischen erwarten, dass die Welt dank der von den USA angeführten und beispiellosen wirtschaftlichen Stimulierung sowie der stetigen Fortschritte an der Impffront ab der zweiten Hälfte 2021 wieder zur Normalität zurückkehrt. Dies sollte zu einer Entfesselung der aufgestauten Konsumnachfrage führen.

3. Multipolare Koexistenz wird immer wichtiger

Reichweite, Relevanz und Stabilität jeder global relevanten Grossmacht, einschliesslich der Römer, des Britischen Empires, der Sowjetunion, der USA und Chinas, wurde durch Geografie, Demografie, Wirtschaft, Inklusion, Technologie, natürliche Ressourcen, Organisation, militärische und diplomatische Kapazitäten und Soft Power definiert. In der heutigen Welt sind aus ganzheitlicher Perspektive heraus nur drei Supermächte wirklich wichtig – eine herausgeforderte USA, ein aufstrebendes China sowie eine stabile EU.

4. Zentralbanken brauchen endlich Unterstützung von der Politik

Alle Finanzkrisen der vergangenen vier Jahrzehnte wurden mit traditioneller und quantitativer geldpolitischer Expansion angegangen. Leider ohne jeweils die strukturellen Ursachen anzugehen. Viele Politiker haben diese heikle Arbeit den Zentralbanken überlassen, die sich mit einem immer grösseren Mandat konfrontiert sahen, das sich von der ursprünglichen Konzentration auf Preisstabilität und Beschäftigung hin zur Bekämpfung von Vermögensblasen, Immobilienkrisen, Ungleichheit, Nachhaltigkeit und Klimawandel erstreckte. Entscheidend ist nun, dass die Geldpolitik durch eine angemessene Fiskal- und Strukturpolitik ergänzt wird.

5. Ist der Geist der Inflation der Flasche entwichen?

Langfristig gesehen haben wir die Talsohle der Zins- und Inflationsentwicklung durchschritten, und eine weitere Normalisierung ist zu begrüssen. Der aktuelle Anstieg der US-Zinsen und Inflationserwartungen ist allerdings kein genereller Ausbruch nach oben. Vor allem scheint sich das Paradigma der US-Notenbank verschoben zu haben, um den Fehler in der Finanzkrise von 2008 nicht zu wiederholen und sich auf die Seite der Vorsicht zu schlagen. Das Stimulierungspaket von US-Präsident Joe Biden ist höchstwahrscheinlich eine Übertreibung, aber dennoch die zeitlich richtige politische und wirtschaftliche Massnahme. Die langsame und hinterherhinkende EU wäre gut beraten, diesem Beispiel zu folgen.

6. Blasen entstehen und platzen

Überschüssige Liquidität und extrem niedrige Renditen führen zu überhöhten Vermögenspreisen und einem fehlgeleiteten Verhalten der Investoren in Finanzanlagen. Die grösste Blase, die die Welt je gesehen hat, ist der Anleihenmarkt, und der grösste Schuldenberg aller Zeiten stammt von der US-Regierung – und China ist zufällig der grösste Gläubiger! Zu den kleinen Blasen gehören Kryptowährungen und Spacs, bei denen sich kein fundamentaler Wert ermitteln lässt.

7. Digitalisierung offenbart auch Mängel im System

Die Pandemie hat zu einem deutlichen Anstieg des Online-Handels geführt, aber auch die kostspieligen Mängel insbesondere auch im öffentlichen und privaten Sektor offengelegt. Die Pandemie wird zu einer massiven Beschleunigung technischer Anwendungen, künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen in allen Bereichen unseres Alltags führen.

8. Nachhaltigkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die grossen Nutzniesser der Pandemie und der damit verbundenen wirtschaftlichen Einschränkungen sind die Natur, das Klima und die Umwelt. Ich bin überzeugt, dass auf der einen Seite alle Aspekte von Nachhaltigkeit und ESG flächendeckend zu einem entscheidenden Faktor werden und auf der anderen Seite bisher eher wenig wirklich erreicht und getan wurde. Darum eröffnen sich allen Ländern und Unternehmen, die mit schnell und beherzt vorangehen, ungeahnte Möglichkeiten.

9. An kontinentaleuropäischen Aktien führt kein Weg vorbei

In einem Umfeld beispielloser wirtschaftlicher Impulse und sich normalisierender Zinssätze sind Aktien die Anlageklasse erster Wahl. Das beste Chance-Risiko-Verhältnis bieten exportabhängige, kontinentaleuropäische Dividendenpapiere aus Deutschland, da sie mit einem deutlichen Abschlag zu US-Aktien bewertet sind und am meisten vom US-Konjunkturprogramm und dem überdurchschnittlichen Nachfragewachstum aus Asien profitieren werden.

10. Wichtige Risikofaktoren

Ich sehe zwei wesentliche Risiken, eines aus gesundheitlicher und eines aus wirtschaftlicher Sicht:

  • aus einer gesundheitlichen Risikodimension, dass wir mit einer gefährlicheren Covid-Variante konfrontiert werden könnten, gegen die die aktuellen Impfstoffe nicht wirksam sein werden;
  • aus wirtschaftlicher Sicht, dass die Welt monetäre und fiskalische Anreize für die Sanierung und Investitionen in die Infrastruktur (Klima, Energie, Bildung, Gesundheit und Transport) braucht, um strukturelle Wachstums-, Produktivitäts- und Ungleichheitsprobleme anzugehen.

Beat Wittmann ist seit bald sechs Jahren Chairman und Partner der in Zürich ansässigen Finanzberatungs-Gesellschaft Porta Advisors. Der Bündner blickt auf eine mehr als 30-jährige Karriere im Schweizer Bankwesen zurück, die ihn unter anderem zu den Schweizer Grossbanken UBS und Credit Suisse sowie zu Clarien Leu und Julius Bär führte. Zwischen 2009 und 2015 war er zunächst selbständig und danach für die Schweizer Raiffeisen-Gruppe im Asset Management tätig.


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