«Richard D. Precht ist ein populistischer Kritiker, der uns mit unsinnigen Argumenten irreführt – jetzt zu Corona», schreibt Lars Jaeger in seinem Beitrag auf finews.first.


In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen


Der Kern wissenschaftlichen Arbeitens ist der methodische Zweifel. Wissenschaftliche Modelle und Theorien werden immer wieder auf den Prüfstand gestellt, bestehende Auffassungen kritisch hinterfragt und damit bestehendes falsches Wissen so schnell wie möglich korrigiert.

Denn historisch gesehen hat sich das allermeiste von Autoritäten für wahr Erklärte zuletzt als falsch erwiesen. Auch nahezu alle wissenschaftlichen Theorien haben sich irgendwann als falsch oder zumindest korrektur- und erweiterungsbedürftig erwiesen.

«Was Wissenschaftler heute kritisch und kontrovers diskutieren, kommt selten in der Öffentlichkeit an»

Diese Pflicht zur strengen Hinterfragung wissenschaftlicher «Wahrheiten» heisst nicht, dass jeder Widerspruch zu einem bestehenden wissenschaftlichen Konsensus als glaubwürdig eingestuft werden und dieser mit Korrekturen (oder gar Komplettumwälzung) versehen werden muss. Was unter Wissenschaftlern heute kritisch und kontrovers diskutiert wird, kommt selten in der Öffentlichkeit an.

Dafür sind die Themen unterdessen einfach zu komplex. Vielmehr befinden sich unter Nicht-Wissenschaftlern nur allzu oft diejenigen wissenschaftlichen Themen in einem breiteren gesellschaftlichen Diskussionsfeld, bei dem die Wissenschaftler selbst kaum mehr viel diskutieren, da hier ein breiter Konsensus besteht (Beispiel Klimawandel).

Doch natürlich kann auch unter diesen Umständen eine wissenschaftliche Theorie hinterfragt werden. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Kritik unter solchen Umständen, bei denen die Kritiker keine Ahnung vom wissenschaftlichen Background des Themas haben, als substanzvoll herausstellt, ist zumeist sehr gering.

«Hier handelt es sich nur allzu oft um generelle Ignoranten und reine Polemiker»

Bei vielen Kritikern vermischen sich hier leider oft eine als wissenschaftlich verkleidete Aussage mit speziellen sozialen Forderungen, individuellem Geltungsbedürfnis oder gar speziellen politischen oder ökonomischen Interessen.

Seit einiger Zeit lässt sich dies sehr gut mit der gegenwärtigen Corona-Krise beobachten. Viele von denen, die glauben, sich mit Corona-impfskeptischen Aussagen, Artikeln und Videos an die Öffentlichkeit richten zu müssen und sich dabei wiederum oft auf die wissenschaftliche Skepsis gewisser selbsterklärter Experten, zumeist ebenfalls nicht wissenschaftlich ausgebildet, berufen, können «falscher» zumeist nicht liegen.

Hier handelt es sich nur allzu oft um generelle Ignoranten und reine Polemiker anstatt ernstzunehmender Teilnehmer an einer Diskussion über ein komplexes Thema.

«Richard David Precht; eigentlich ein Germanist, der Philosophie nur als Nebenfach studiert hat»

Als aktuelles Beispiel dient uns wieder einmal der in der Masse populäre, selbsterklärte philosophische Meinungsführer Richard David Precht; eigentlich ein Germanist, der Philosophie nur als Nebenfach studiert hat und über den im frühen 20. Jahrhundert tätigen österreichischen Schriftsteller und Theaterkritiker Robert Musil promoviert hat.

Naturwissenschaftliche Studien tauchen nirgendwo in Prechts Ausbildung auf. Fehlende Expertise hat ihn jedoch noch nie davon abgehalten, eine dezidierte und nicht selten sehr kontroverse Meinung auf sehr vielen wissenschaftlichen respektive technologischen Gebieten zu artikulieren, wie für Künstliche Intelligenz, Digitalsysteme, Zukunft von Automobilen, Biologie und vielem anderen.

«Dies ist, um es direkt zu benennen, blanker Unsinn»

Nun hat sich Precht in seinem Podcast kürzlich mit Markus Lanz entsprechend kontrovers zum Thema der geeigneten Corona-Massnahmen geäussert. Seine Grundforderung lautet, dass sich der Staat hier deutlich stärker zurückfahren müsse. Er plädiert für eine «Position der Mitte» und setzt damit die unwissenden Skeptiker der Corona-Impfung mit den Experten, die teils schon jahrzehntelang auf diesem Gebiet arbeiten, gleich.

«Es gibt Leute, die hören das Wort Impfen und denken sofort: ‚Das ist der Teufel.‘ Und es gibt Leute, die hören das Wort Impfen und sagen sofort: ‚Alles unbedenklich.‘ Ja, und beide Pole sind totaler Quatsch.»

Dann behauptet er:

«Die Nebenwirkungen einer Impfung können wir genauso wenig abschätzen, wie die Gefährlichkeit oder die Wirkung des Corona-Virus.»

Dies ist, um es einmal direkt zu benennen, blanker Unsinn und zeugt von der Ignoranz Prechts.

Und dann kommt er zu Kindern und sagt, dass er

«Kinder sowieso niemals impfen lassen […] ein im Aufbau begriffenes Immunsystem mit diesem Impfstoff da zu bearbeiten, also das würde ich niemals tun.»

Seit Beginn der Ausbreitung des neuen Virus haben die Forscher in einer bewundernswerten Arbeit in Rekordschnelle viele bedeutenden Eigenschaften des Virus ermittelt, unter anderem seine genetische Struktur (dafür brauchte es nur wenige Tage), seine Infektiosität, seine Wirkungen im menschlichen Körper und damit die vielen Aspekte seiner Gefährlichkeit.

«So hofft er, die Gegenseite zum Schweigen zu bringen»

Wir wissen heute sehr sicher, dass die neusten Mutationen der Corona-Viren auch für jüngere Menschen bis hin zu Kindern eine Gefahr darstellen. Precht widerspricht dem und stellt sogar die wissenschaftliche Forschung von Corona-Impfstoffen für Kinder insgesamt infrage.

Als ihm daraufhin gesagt wird, dass in vielen Fragen um Corona die Impfstoffforschung sehr viele Fragen sehr verlässlich beantworten könne, und dass sich seine Aussagen hier kaum als richtig erweisen würden, nennt Precht das Impfen daraufhin mit eindeutiger polemischen Intention «Gentechnik», was, wie er wohl hofft, die Gegenseite zum Schweigen bringt – wird doch Gentechnik von vielen Menschen als kritisch gesehen (ohne zu wissen, welch enorme medizinische Fortschritte sich hier abzeichnen): «Von solchen gentechnischen Impfstoffen haben wir keine einzige Langzeitwirkungsstudie.»

Dieses Interview erscheint wie der komplette intellektuelle Untergang Prechts. Er redet sehr skeptisch über das Impfen und hat vom wissenschaftlichen Hintergrund des Themas offensichtlich überhaupt keine Ahnung.

«Hier lohnt sich ein Blick auf die Philosophie Karl Poppers»

Dabei ist es auch für die allermeisten starken Befürworter der mRNA-basierten Corona-Impfung natürlich eine Selbstverständlichkeit, die Impffreiheit zu garantieren. Eine Pflicht dazu darf es nicht geben.

Dennoch stossen wir immer wieder auf ein zentrales Problem, und es lohnt sich, dieses einmal wirklich philosophisch anzuschauen: Wie lässt sich der Komplexität der sozialen Wirklichkeit in unseren heutigen offenen Gesellschaften gerecht werden, insbesondere im Angesicht einer globalen Krise durch den Covid-Virus?

Hier lohnt sich ein Blick auf die Philosophie Karl Poppers. Seine Philosophie der offenen Gesellschaft steht auf dem Fundament seines Buches «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» von 1945. Seine Gedanken darin beruhen auf seinem einige Jahren (1934) zuvor publizierten Werk «Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft».

«Für feste und auf ewig unverrückbare Wahrheiten ist da wenig Platz»

Die Notwendigkeit, politische Entscheidungen zu korrigieren und Regierungen gewaltfrei abwählen zu können, findet ihre Entsprechung in der Möglichkeit, wissenschaftliche Aussagen zu falsifizieren und immer wieder korrigieren zu können.

Dieser bereits oben beschriebene Weg ist nach Popper der Vorzug des wissenschaftlichen Denkens: Nicht auf einer letzten Wahrheit zu beharren, sondern die Dynamik eines ständigen Befragens des Status quo unserer eigenen intellektuellen Solidität und die nicht endende kritische Reflexion unseres gegenwärtigen Denkens, Wissens und Meinens stehen im Zentrum der wissenschaftlichen Methode.

Für feste und auf ewig unverrückbare Wahrheiten ist da wenig Platz. Erst diese methodische Grundlage des Zweifels und des ständigen Hinterfragens und somit das vorsichtige Vorantasten in der Viel-Dimensionalität der Wahrheit wird der Komplexität der Strukturen unserer Welt und der menschlichen Erkenntnis darin gerecht.

«Regierungen haben hier sehr ausgiebig gearbeitet»

Diesen so klaren wie brillanten Gedanken übertrug Popper auf die Gesellschaft und ihre eigene Komplexität. Wir kommen nicht mit einem Schlag zur optimalen Herrschaft- und Entscheidungsstruktur, sondern tasten uns immer wieder über die Korrektur falscher Entscheidungen vorwärts.

Genau dies prägt auch das Prinzip, wie an die globale Corona-Krise heranzugehen ist. Neue Impfungen sind zu kontrollieren und in jeder möglichen Hinsicht zu testen – was im Übrigen immer am meisten Zeit beansprucht – den Impfstoff gegen Corona hatten die Firmen bereits Tage bis Wochen nach Erfassung der genetischen Struktur des Corona-Virus entwickelt.

Und ja, gerade bei Kindern sollte man besonders vorsichtig sein, ob die Impfung für Erwachsene auch für sie angemessen ist. Und nach vielen Tests und Untersuchungen haben die Wissenschaftler nun auch für sie grünes Licht gegeben. Regierungen haben hier also sehr ausgiebig gearbeitet, der immensen Komplexität der Aufgabe einer optimalen Pandemiebegegnung gerecht zu werden.

«Dies Forderung erscheint als Ergebnis einer dogmatischen Illusion»

Haben sie ihre einmal getroffenen Entscheidungen nicht immer wieder angepasst, sich mit Task Forces getroffen, die verschiedensten Ebenen der Entscheidungsträger angefragt und einbezogen und die Temporalität ihrer Entscheidungen betont, jederzeit bereit Anpassungen an ihnen vorzunehmen?

Tatsächlich erscheint der zuweilen etwas kontrovers und uneinig und nicht zuletzt erratisch erscheinende Vorgang der politischen Entscheidungsfindung in der offenen Gesellschaft mit ihren vielschichtigen Inputs und zuweilen gar als Schwäche ausgelegten Korrekturen während der Corona-Krise als die wohl beste Entsprechung des Popper’schen Ideals der offenen Gesellschaft und ihrer strukturellen Stärke im Angesicht der Komplexität heutiger sozialer Strukturen und offener Probleme.

Die Forderung, dies alles in die Hände selbstverantwortlicher, freier Bürger zu legen, womit sich das Problem von selbst löst, erscheint dagegen eher als das Ergebnis einer dogmatischen Illusion.


Lars Jaeger ist Investmentexperte sowie Autor, der über Geschichte, Philosophie und die Bedeutung der Wissenschaften und technologischen Entwicklung sowie über Hedgefonds, quantitatives Investieren und Risikomanagement schreibt. Kürzlich erschien im Springer Verlag sein Buch «Wege aus der Klimakatastrophe».


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