Ursula Marchioni: «Chance der Schweiz liegt im Affluent-Segment»

Ursula Marchioni ist Head of Investment & Portfolio Solutions EMEA bei Blackrock. Im Interview mit finews.ch spricht sie über die grosse Veränderung, die an den Märkten zu beobachten ist, und über die Zukunft des Finanzplatzes Schweiz. 

Frau Marchioni, wo sollten wir als Investoren im Jahr 2025 unseren Fokus setzen?

Wir befinden uns in einer Phase extremer Volatilität. Zudem beobachten wir eine erhebliche Veränderung der Marktmechanismen. Das hat auch Einfluss darauf, wie Investoren ihr Kapital allozieren.

Im vergangenen Jahr haben wir oft von «US-Exzeptionalität» gehört und dass im Grunde alles perfekt aufeinander abgestimmt schien, als würden sich die Sterne ausrichten: Die Stärke der zugrundeliegenden Wirtschaft, die Stabilisierung des Arbeitsmarktes und grosse strukturelle Faktoren wie Technologie, die den Markt stützten. 

Der S&P 500 beendete das Jahr mit einer Performance von knapp 25 Prozent. Dies führte dazu, dass Investoren mit erheblicher Überzeugung in den US-Markt einstiegen, insbesondere rund um die Wahlen, aber auch danach. Allein bei den börsengehandelten US-Aktienprodukten (ETP) verzeichneten wir Zuflüsse in Höhe von 823 Milliarden US-Dollar, was 65 Prozent der gesamten Zuflüsse in Aktienprodukte entspricht – ein Rekord.

Das war die Realität im Jahr 2024. Nun sind wir in 2025…

 … oberflächlich betrachtet hat sich das Bild bemerkenswert verändert. Ende der zweiten Märzwoche gab es eine Divergenz von fast 15 Prozent zwischen europäischen und US-Aktien. In diesem Jahr hat Europa besser abgeschnitten, während der S&P 500 rund 4 Prozent gefallen ist.

«Wir sehen, dass auch internationale Investoren aus den USA und Asien vermehrt in Europa investieren.»

Als Folge sehen wir, dass die Kapitalströme in US-Aktien nachlassen und Investoren wieder beginnen, sich für europäische Vermögenswerte zu erwärmen. Mittlerweile beobachten wir, dass auch internationale Investoren aus den USA und Asien vermehrt in Europa investieren – ein Beispiel dafür sind die globalen ETP-Ströme, bei denen wir uns erst im dritten Monat des Jahres befinden und mit Zuflüssen in Höhe von 27,1 Milliarden Dollar auf dem besten Weg sind, das drittgrösste Zuflussjahr seit Bestehen zu werden. 

Wo liegen die Chancen für Investoren? 

Das hängt vom Horizont ab. Kurzfristig, also in den nächsten drei bis sechs Monaten, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Volatilität anhält. Die US-Regierung ist nun seit knapp zwei Monaten im Amt, aber viele Änderungen sind noch in Diskussion oder werden gerade umgesetzt. Das trägt zur Unsicherheit bei und beeinflusst das Konsumverhalten in den USA.

Langfristig bleiben jedoch die meisten der grundlegenden Säulen der These vom «US-amerikanischen Exzeptionalismus» bestehen – die Ertragsstärke, die allgemeine Verfassung der Wirtschaft und so weiter. Daher bleiben wir in den USA übergewichtet.

Werden wir in Europa eine Aufwärtsbewegung sehen?

Betrachtet man Europa, dann haben wir bereits die erste Phase einer Erholungsrally erlebt. Als Blackrock bleiben wir bei unserer neutralen Haltung, aber mit einer leicht positiven Tendenz. Wenn man sich die jüngsten politischen Ankündigungen aus Deutschland ansieht, insbesondere fiskalische Massnahmen, könnten diese Wachstumspotenzial freisetzen.

«Das traditionelle 60/40-Portfolio funktioniert heute nicht mehr so gut wie früher.»

Der Weg dorthin ist jedoch noch unklar. Und Europa hat nach wie vor strukturelle Herausforderungen – von Demografie bis zum anhaltend niedrigen Wachstum. Eine zweite Etappe der Rally ist also möglich – aber nicht garantiert.

Also, Sie haben noch kein klares Bild davon, was kommt. Aber es wäre möglich, dass wir eine Verschiebung von den USA hin zu Europa sehen, da es kurzfristig dort einige Chancen gibt?

Ja, dies ist durchaus möglich. Das Momentum ist definitiv anders als 2024, und die Märkte wie Kapitalströme spiegeln das wider. Dennoch sind die Aussichten der USA mittelfristig weiterhin gut.

Was bedeutet das für Investoren?

Investoren müssen langfristig denken und die Volatilität im Blick behalten. Ein entscheidender Punkt ist, dass wir uns von den klassischen Portfolio-Strukturen verabschieden müssen. Das traditionelle 60/40-Portfolio funktioniert heute nicht mehr so gut wie früher. Asset-Allokation wird immer wichtiger.

Können Sie das genauer erklären?

Unsere Analysen zeigen, dass Asset-Allokationsentscheidungen heute viel grössere Auswirkungen haben als in der Vergangenheit. In der «Grossen Moderation», die vier Jahrzehnte dauerte und 2020 endete, führte eine Umschichtung von 20 Prozent zwischen Aktien und Anleihen zu einer Rendite-änderung von 0,25 Prozent pro Jahr. Heute kann die gleiche Entscheidung eine Differenz von bis zu 2 Prozent bedeuten. Das zeigt, dass Investitionen schwieriger geworden sind.

«Entscheide in der Asset Allocation haben heute viel grössere Auswirkungen als früher.»

Wie gehen Anleger damit um?

Zunächst einmal muss die Vermögensallokation dynamischer werden, um die Welt, in der wir uns befinden, widerzuspiegeln. Vorbei sind die Zeiten, in denen Allokationen festgelegt und dann nicht mehr geändert wurden. Auch die Auswahl der Produkte muss präziser werden und über regionale Aktienblöcke hinausgehen, da diese es nicht ermöglichen, Marktgrössen oder Sektorchancen optimal zu nutzen.

Dann brauchen wir mehr Hebel für Performance und Diversifizierung – eine Antwort darauf ist die verstärkte Nutzung von alternativen Anlageklassen, insbesondere von Privatmärkten. Rund 87 Prozent der globalen Unternehmen mit einem Umsatz von über 100 Millionen Dollar sind privat. Das zeigt das enorme Potenzial dieser Märkte. Wir erwarten, dass das Volumen der Privatmärkte bis 2030 auf rund 30 Billionen Dollar wächst.

Wie verändert sich die Vermögensverwaltung in diesem neuen Umfeld?

Die steigende Komplexität der Kapitalmärkte erfordert strukturelle Veränderungen. Viele Banken setzen verstärkt auf diskretionäre Mandate und zentrale Anlageberatung. Der Anteil dieser strukturierten Lösungen ist in den letzten fünf Jahren von 36 Prozent auf 47 Prozent gestiegen und soll bis 2028 auf 55 Prozent anwachsen – wodurch in der Region über 2 Billionen US-Dollar in Bewegung gesetzt werden.

Warum dieser Wandel? 

Es ist nicht mehr sinnvoll, dass jeder Berater für jeden einzelnen Kunden eine individuelle Investmentstrategie entwickelt. Stattdessen ist es effizienter, die Investmentprozesse zu zentralisieren. Ein CIO-Office kann fundierte Anlagestrategien entwickeln, die dann an verschiedene Kundenprofile angepasst werden. Gleichzeitig ermöglicht der technologische Fortschritt eine Skalierung individueller Lösungen, insbesondere für das Affluent-Segment.

«Die Schweiz ist ein unglaublich spannender Markt.»

Welche Rolle spielt die Schweiz in dieser Entwicklung?

Die Schweiz ist ein unglaublich spannender Markt, sowohl was die Qualität der Finanzdienstleistungen als auch die bestehende Infrastruktur betrifft. Die Herausforderung besteht darin, einige der besten Praktiken, die bereits für High-Net-Worth-Kunden existieren, auch auf das Affluent-Segment auszudehnen. Nicht nur in der Schweiz, sondern auch in ganz Europa, da viele Schweizer Unternehmen auch international tätig sind. Derzeit ist dieser Teil der Kundschaft hauptsächlich in Bargeld und nicht in Investitionen investiert, was bedeutet, dass ein erheblicher Teil des Kapitals ungenutzt bleibt.

Was müsste sich ändern, um dieses Potenzial zu heben?

Technologie spielt eine entscheidende Rolle. Man kann nicht Millionen von Portfolios manuell verwalten – das erfordert Automatisierung und intelligente Algorithmen. Zudem müssen Banken in Beratungskapazitäten investieren und innovative Investmentlösungen entwickeln.

Wird sich diese Entwicklung fortsetzen?

Absolut. Die Europäische Zentralbank wird ihre Zinssenkungen fortsetzen, was bedeutet, dass Cash-Reserven nicht mehr so attraktiv sind. Das zwingt viele Anleger dazu, ihr Kapital stärker in den Markt zu bringen.