In vielen Ländern haben sich sowohl der Energiemarkt als auch der politische Wille in den vergangenen Jahren stark verändert. Die Karten des Energiemixes würden neu gemischt, schreibt Lars Jaeger auf finews.first.


In dieser Rubrik nehmen Autorinnen und Autoren Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


In vielen Ländern haben sich sowohl der Energiemarkt als auch der politische Wille in den vergangenen Jahren stark verändert. Die Karten des Energiemixes werden neu gemischt. Das jüngste Beispiel ist China, wo Präsident Xi Jinping vor einigen Tagen bekanntgab, dass sein Land anstrebe, bis 2060 CO2-neutral zu sein.

Die politischen Entscheidungsträger haben sich endlich der Aufgabe zugewandt, den Klimawandel zu stoppen. Doch reicht es aus, wenn die Politiker Lippenbekenntnisse abgeben? Wie steht es mit unserer individuellen Verantwortung für die Emission von Treibhausgasen? Was haben wir bisher persönlich geleistet, um diese einzudämmen?

«Auch unsere Ernährung verursacht eine signifikante Menge an Treibhausgasen»

Viele Bewohner der Industrieländer fahren immer noch wie selbstverständlich mit grossen Autos umher, verzehren grosse Mengen an Fleisch, essen Avocados aus Thailand und tragen T-Shirts aus Bangladesch. Daran, dass wir nicht nur in die Sommerferien fliegen wollen, sondern zunehmend auch in den Frühjahrs- und Herbsturlaub, hat selbst die Corona-Krise kaum etwas geändert.

Auch unsere Ernährung verursacht eine signifikante Menge an Treibhausgasen. Was wir essen wird angebaut, geerntet, transportiert, gelagert, weiterverarbeitet, bevor es schliesslich im Verkauf landet und dann, erneut nach Lagerung, Kühlung und Zubereitung, von uns konsumiert wird. Die Tierhaltung macht dabei einen besonders grossen Teil der Emissionen aus. Gemäss der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) macht weltweit die Haltung und Verarbeitung von Tieren fast 15 Prozent der Treibhausgasausstösse aus.

Für die Produktion eines Kilos Rindfleisch (rund 2'500 kcal Nährwert) wird das Treibhaus-effektive Äquivalent von rund 13 Kilogramm CO2 emittiert, ein Kilo Butter (rund 7'000 kcal Nährwert) kommt sogar auf 24 Kilogramm CO2, ein Kilo Lammfleisch (rund 3'000 kcal Nährwert) auf sage und schreibe 39 kg CO2, während ein Kilo Käse (rund 3.000 kcal Nährwert) durchschnittlich 8,5 Kilogramm CO2 benötigt.

«Hier könnten Methoden der Gentechnik weitere Verbesserungen bringen»

Bei Kartoffeln (rund 860 kcal Nährwert) beträgt dieser Wert gerade einmal 0,4 Kilo CO2, und bei der Produktion von einem Kilo frischem Gemüse (rund 400 kcal Nährwert) fallen im Schnitt nur 0,15 Kilo CO2 an. Gemüse hat damit unter den Grundnahrungsmitteln die beste CO2-Bilanz.

Hier könnten Methoden der Gentechnik, wenn diese in Europa auch umstritten sind, weitere Verbesserungen bringen. Es gibt zum Beispiel gentechnisch veränderten Reis, dessen Produktion insgesamt weniger Treibhausgase freisetzt und der zugleich mehr Ertrag bringt. Voraussetzung dafür ist, dass hinter diesen Methoden nicht nur die Profitgier der Unternehmen steckt, sondern dass diese auch von Ernährungswissenschaftlern einwandfrei als für unserer Gesundheit zuträglich sowie von Umweltexperten als nicht schädlich für die Biosphäre erwiesen werden.

Transport und Verpackung der fertigen Nahrungsmittel spielen eine eher nebensächliche Rolle für die Umwelt (solange sie nicht per Flugzeug transportiert werden). Allein auf regionale Produkte zu setzen, verbessert den Fussabdruck der Ernährung nur um etwa 4 Prozent (manche Produkte können in Übersee sogar CO2-günstiger produziert werden). Wichtiger ist es, auf saisonale Nahrungsmittel zu achten: Äpfel, die monatelang in Kühlhäusern gelagert werden, sind in ihrer Klimabilanz bei weitem nicht so gut wie frische Äpfel. So beträgt die für das Kühlen benötigte Energie nach sechs Monaten schon 22 Prozent des gesamten Energieeinsatzes.

«Müssen wir also in Zukunft auf unser Steak oder Kotelett ganz oder teilweise verzichten?»

Laut WWF reduziert sich der CO2-Fussabdruck der Ernährung eines Mitteleuropäers um rund 25 Prozent, wenn sie oder er auf vegetarische Ernährung umstellt. Bei veganer Ernährung sind es sogar 40 Prozent. Kein Wunder, dass der Weltklimarat in seinem «Sonderbericht zu Klimawandel und Landsysteme» vom August 2019 eine Kehrtwende beim menschlichen Fleischkonsum fordert. Um die steigende Weltbevölkerung satt zu machen, brauchen wir weiter verbesserte Methoden der Nahrungsgewinnung. Tierhaltung können wir uns für 10 Milliarden Menschen einfach nicht mehr leisten.

Dazu kommt: Seit längerem ist bekannt, dass Fleischkonsum, insbesondere der von verarbeitetem Fleisch, nicht unbedingt gesundheitsfördernd ist. Er erhöht signifikant das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken (da sich im Mikrobiom, der bakteriellen Darmflora potenziell aggressive Bakterien vermehren, die Entzündungen und mit der Zeit mutierende Zellen verursachen), ebenso wie das von Bauchspeicheldrüsen- und Prostatakrebs. Weitere Folge starken Fleischverzehrs sind Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Niereninsuffizienz, chronische Entzündungen, Arthrose und Rheuma, Ärzte raten daher zu einem reduzierten Fleischkonsum.

Müssen wir also in Zukunft auf unser Steak oder Kotelett ganz oder teilweise verzichten? Nein, denn auch im Bereich der Nahrungsmittelproduktion werden wir dramatische technologische Veränderungen erleben. Sie ermöglichen uns, gesünderes und ökologischeres Essen – und dieses wird dazu auch noch schmackhafter sein als das, was wir heute kennen.

«Der Aufwand für diesen Prototyp war jedoch immens, die Frikadelle kostete 250'000 Euro»

Nahrung ist eigentlich nur eine Zusammenstellung von Eiweiss, Fett und Kohlenhydraten plus Vitaminen und Spurenelementen. Diese lassen sich mit geeigneten Verfahren auch technisch zusammenstellen, und dies sogar noch viel effizienter und ernährungsphysiologisch wertvoller als die Natur dies tut. Zudem eignet sich die Herstellung in sterilen Zellkulturen viel besser zur industriellen Fleischherstellung, denn hier ist die Kontrolle von Krankheitserregern und Giftstoffen einfacher. Zudem entfällt das aufwendige und appetitraubende Entfernen von Innereien, Haaren und Knochen. Auch lässt sich der Fettgehalt des Fleisches steuern. Und nicht zuletzt: Die Herstellung künstlichen Fleisches im Labor reduziert die Treibhausgasemissionen um bis zu 95 Prozent.

Schon 2013 stellten Wissenschaftler der Universität Maastricht eine künstliche Frikadelle her. Dafür entnahmen sie Muskelstammzellen von Rindern, versetzten sie mit Nährstoffen, Salzen, pH-Puffern und Wachstumsfaktoren und überliessen sie der Vermehrung. Aus den Zellen wurden Zellstränge, rund 20'000 von ihnen waren für eine 140-Gramm-Frikadelle nötig. «Fast wie Fleisch, nicht ganz so saftig, aber die Konsistenz ist perfekt», urteilten die Testesser. Der Aufwand für diesen Prototyp war jedoch immens, die Frikadelle kostete 250'000 Euro.

Sieben Jahre später steht das In-vitro-Fleisch kurz vor der Marktreife. Entsprechende 3D-Bio-Drucker setzen die gezüchteten Zellstränge serienmässig zu Muskelgewebe zusammen. Die Preise lagen im Jahr 2020 um die 8 bis 10 Euro pro Burger (rund 140 Gramm). Eine Reihe von Start-ups strebt heute an, ihre Produkte schon bald zu wettbewerbsfähigen Preisen auf den Markt zu bringen.

«Die Massentierhaltung ist kaum appetitlicher»

Wer meint, dass künstlich hergestelltes In-Vitro-Fleisch wenig appetitvoll oder eine Ernährung mit künstlich hergestelltem Fleisch würde den Menschen zu weit weg von der Natur führen, sollte mal einige Stunden in einer Grossschlachtanlage verbringen oder bei einem grossen Agrarproduzenten zuschauen.

Im Sommer 2020 wurden wir mit der Tönnies-Krise unfreiwillige Zeugen der furchtbaren Bedingungen der heutigen industriellen Fleischproduktion. Die Massentierhaltung bei den Grossbauern ist kaum appetitlicher. Neben Wildtieren sind im Übrigen auch Bauernhöfe bedeutende Virenschleudern.

Und die Monokulturen der heutigen pflanzlichen Nahrungsmittelproduktion, inklusive der für Tierfutter, gehen mit derart massiven Schädigungen der Natur (Bodenverdichtung, Bodenerosion, Dünger und Pestizide im Grundwasser, Bienensterben aufgrund Pflanzenschutzmitteln) einher, dass der Ruf nach einer «Agrarwende» immer lauter wird. Anstatt ein Schritt weg von der Natur stellt die künstliche Fleischproduktion einen mächtigen Schritt zum ihrem Schutz dar, also eine Schritt hin zur Natur.

«Dem Lebensmittelmarkt steht eine Revolution bevor»

Und was die Schmackhaftigkeit angeht, zuletzt wohl neben der Gesundheit das wichtigste Kriterium für das was wir essen, so arbeiten die alternativen Fleischproduzenten mit Gourmet-Köchen und Metzgern zusammen, aber auch mit Lebensmitteltechnikern, Geschmacksexperten und Herstellern von Aromen und Duftstoffen, um Saftigkeit, Textur und Mundgefühl zu optimieren.

Ihr Ziel ist es, den Geschmack des Steaks täuschend echt zu simulieren und durch entsprechende Aromazugaben sogar noch zu verbessern. Erste Tester attestieren einhellig, dass die gedruckten Steaks wie echtes Fleisch schmecken, geschmackvoll, bissfest und faserig wie das Original.

Dem Lebensmittelmarkt steht eine Revolution bevor. Pflanzliche Ernährung ist klimabilanztechnisch recht günstig, anders das Fleisch aus tierischer Produktion. Aus Zellen gezüchtetes und mit 3D-Druckern ausgeedrucktes Fleisch und Meeresfrüchte werden die industrielle Tierhaltung dramatisch reduzieren und dabei unsere Essgenuss sogar noch erhöhen. Es wird geschätzt, dass bis 2040 rund 35 Prozent des gesamten Fleisches derart produziert wird.

«Unsere Ernährung wird gesünder, ohne dass wir auf Geschmack verzichten müssen»

Der Populärphilosoph Richard David Precht zeichnet schon das Bild einer Gesellschaft ohne Nutztierhaltung, aber mit Fleisch, das nicht von der Weide kommt, sondern das wir selber ausdrucken. So können wir die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung sicherstellen und den ökologischen Fussabdruck unserer Ernährung reduzieren. Dabei wird unsere Ernährung zugleich gesünder, ohne dass wir auf Geschmack verzichten müssen.


Lars Jaeger ist ein schweizerisch-deutscher Autor zu den Themen Geschichte, Philosophie und Bedeutung der Wissenschaften und technologischen Entwicklung, sowie zu Hedgefonds, quantitatives Investieren und Risikomanagement.


Bisherige Texte von: Rudi BogniRolf BanzWerner VogtWalter WittmannAlfred Mettler, Robert HolzachCraig MurrayDavid ZollingerArthur BolligerBeat KappelerChris RoweStefan GerlachMarc Lussy, Nuno FernandesRichard EggerDieter RuloffMarco BargelSteve HankeUrs Schoettli, Maurice PedergnanaStefan Kreuzkamp, Oliver BussmannMichael BenzAlbert Steck, Martin DahindenThomas FedierAlfred MettlerBrigitte Strebel, Mirjam Staub-Bisang, Kim IskyanStephen DoverDenise Kenyon-RouvinezChristian DreyerKinan Khadam-Al-JameRobert HemmiAnton AffentrangerYves Mirabaud, Hans-Martin KrausGérard Guerdat, Mario BassiStephen ThariyanDan SteinbockRino BoriniBert FlossbachMichael HasenstabGuido SchillingWerner E. RutschDorte Bech VizardAdriano B. Lucatelli, Maya BhandariJean TiroleHans Jakob RothMarco Martinelli, Thomas Sutter, Tom King, Werner PeyerThomas KupferPeter Kurer, Arturo Bris, Frédéric Papp, James Syme, Dennis Larsen, Bernd Kramer, Marionna Wegenstein, Armin JansNicolas Roth, Hans Ulrich Jost, Patrick Hunger, Fabrizio QuirighettiClaire Shaw, Peter FanconiAlex Wolf, Dan Steinbock, Patrick Scheurle, Sandro Occhilupo, Will Ballard, Michael Bornhäusser, Nicholas Yeo, Claude-Alain Margelisch, Jean-François Hirschel, Jens Pongratz, Samuel Gerber, Philipp Weckherlin, Anne Richards, Antoni Trenchev, Benoit Barbereau, Pascal R. Bersier, Shaul Lifshitz, Ana Botín, Martin Gilbert, Jesper Koll, Ingo Rauser, Carlo Capaul, Markus Winkler, Konrad Hummler, Thomas Steinemann, Christina Böck, Guillaume Compeyron, Miro Zivkovic, Alexander F. Wagner, Eric Heymann, Christoph Sax, Felix Brem, Jochen Möbert, Jacques-Aurélien Marcireau, Ursula Finsterwald, Claudia Kraaz, Michel Longhini, Stefan Blum, Nicolas Ramelet, Søren Bjønness, Lamara von Albertini, Andreas Britt, Gilles Prince, Darren Williams, Shanu Hinduja, Salman Ahmed, Stéphane Monier, Peter van der Welle, Ken Orchard, Christian Gast, Jürgen Braunstein, Jeffrey Vögeli, Fiona Frick, Stefan Schneider, Matthias Hunn, Andreas Vetsch, Teodoro Cocca, Mark Hawtin, Fabiana Fedeli, Marionna Wegenstein, Kim Fournais, Carole Millet, Swetha Ramachandran, Brigitte Kaps, Thomas Stucki, Teodoro Cocca, Neil Shearing, Claude Baumann, Guy de Blonay, Tom Naratil, Oliver Berger, Robert Sharps, Tobias Müller, Florian Wicki, Jean Keller, Fabrizio Pagani, Niels Lan Doky, Michael Welti, Karin M. Klossek, Ralph Ebert, Johnny El Hachem, Judith Basad, Katharina Bart, Thorsten Polleit, Beat Wittmann, Bernardo Brunschwiler, Peter Schmid, Karam Hinduja, Zsolt Kohalmi, Didier Saint-Georges, Lars Jaeger, Raphaël Surber, Santosh Brivio, Gérard Piasko, Mark Urquhart, Olivier Kessler, Bruno Capone und Peter Hody.