Was noch vor wenigen Jahren undenkbar war, wurde Realität. Mehr noch: Absurdität in der Finanzindustrie ist zur Regel geworden, schreibt Didier Saint-Georges in seinem Essay auf finews.first.


Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen.


Die Finanzmärkte sind in diesen Tagen alles andere als langweilig. Bis in die frühen 1970er Jahre war das noch anders. Es interessierten sich allenfalls Finanzexperten und Anleger für die Börse. Insbesondere in Europa spielten die Finanzmärkte im Vergleich zur Realwirtschaft eine deutlich untergeordnete Rolle: Der Konservatismus der Zentralbanker wurde im Grunde nur noch von institutionellen Anlegern getoppt.

Das internationale Finanzsystem, das vor 75 Jahren auf der Konferenz von Bretton Woods ins Leben gerufen wurde, bot den Volkswirtschaften der «freien Welt» zunächst das gewünschte Mass an Stabilität. Diese Stabilität wurde aber im Laufe der Zeit immer mehr zur Last und 1973 brach das System der festen Wechselkurse zusammen. Die Golddeckung des Dollar wurde aufgehoben, woraufhin die Währung mit heftigen Schwankungen zu kämpfen hatte. Die Finanzmärkte betraten Neuland.

«Der Traum platzte wie eine Seifenblase»

Die rückläufige Inflation und die wachsende Bedeutung des Finanzsektors zwischen 1980 und 1990 taten ihr Übriges. Die Finanzierung teilweise hochtrabender Technologieunternehmen wurde möglich.

Erst im Jahr 2000 platzte der Traum wie eine Seifenblase. Die Finanzmärkte liessen sich ihre Vormachtstellung aber nicht mehr nehmen. Die Notenbanker – auch wenn sie es nicht gerne zugaben – fanden sich damit ab, lediglich die grössten Nebenwirkungen zu bekämpfen. Durch Zinssenkungen auf immer niedrigeren Niveaus versuchten sie, die Auswirkungen jeder platzenden Finanzblase auf die Realwirtschaft einzudämmen.

«Anleger zahlen heute dem französischen Staat Geld dafür, dass sie ihm für zehn Jahre Geld leihen»

Damit begünstigten sie unweigerlich die nächste Blase – die Rede ist natürlich von 2008. In deren Nachgang senkten die Zentralbanken die Zinsen aber noch weiter und griffen mit bis dahin beispielloser Kreativität in die Märkte ein. Die Finanzmarkt-Akteure waren hellauf begeistert. Die Aktienmärkte erlebten zwischen 2009 und 2019 den längsten Aufschwung in der Geschichte. Die Zinsen sanken immer weiter.

Was noch vor wenigen Jahren undenkbar war, wurde Realität. Die Ausnahme wurde zur Regel. Anleger zahlen heute dem französischen Staat Geld dafür, dass sie ihm für zehn Jahre Geld leihen. Und weltweit betrachtet ist selbst das nicht ungewöhnlich: Globale Anleihen im Volumen von 13 Billionen Dollar weisen negative Zinssätze auf. Noch trauen sich Banken nicht, ihren Kunden Negativzinsen für deren Guthaben zu berechnen.

«Wird der scheidende EZB-Präsident noch ein letztes Mal alles in die Waagschale werfen?»

Deswegen macht sich all dies für die meisten Privathaushalte hauptsächlich in den historisch niedrigen Hypothekenzinsen bemerkbar. Und auch den Unternehmen kommen die beispiellos günstigen Finanzierungsbedingungen zugute. Weil aber das Vertrauen in das Wirtschaftswachstum fehlt, fliesst das meiste Kapital in die Finanzmärkte und kaum in Investitionen in Produktionskapazitäten.

Eines der bestimmenden Themen in diesem Sommer ist zweifellos die x-te geldpolitische Lockerung der US-Notenbank und der Europäischen Zentralbank (EZB). Die verschiedenen Akteure überbieten sich gegenseitig: Reicht es, wenn die EZB ihr Programm zum Kauf von Staatsanleihen wieder aufnimmt oder sollte sie nicht lieber auch Aktien kaufen? Wird der scheidende EZB-Präsident Mario Draghi noch ein letztes Mal alles in die Waagschale werfen, um das Wachstum und die Inflationserwartungen anzukurbeln?

Dabei wissen die Notenbanker immer noch nicht, warum die Inflation nicht anzieht: Ein Rätsel, das die Wirtschaftswissenschaftler in diesem Sommer noch weiter beschäftigen wird. Wie kommt es, dass die Inflationserwartungen selbst in den USA mit ihrer beinahe Vollbeschäftigung und steigenden Löhnen nicht zunehmen? Machen die deflationären Auswirkungen der Globalisierung, die Zunahme der Minijobs im US-Dienstleistungssektor und die «Amazonisierung» des Handels den Zentralbanken einen Strich durch die Rechnung?

«Vielleicht könnte uns das in diesem Sommer noch eine Überraschung bescheren»

Liegt des Rätsels Lösung vielleicht darin, dass König Kunde heute niedrige Preise durchsetzen kann, sodass die Unternehmen gezwungen sind, Lohnerhöhungen aus ihren Gewinnmargen zu finanzieren? Dann würde der Druck auf die Margen die Unternehmensinvestitionen weiter belasten und das globale Wachstum bliebe schwach. Diese Befürchtung ist wahrscheinlich der Hauptgrund, weshalb die USA ihre Machtposition gegenüber ihren Handelspartnern nutzen, um sich das grösstmögliche Stück vom Kuchen einer weltweit rückläufigen Wirtschaftstätigkeit abzuschneiden.

Zweifellos spiegelt die extreme Positionierung der Anleger in Wachstumswerten und Obligationen die allgemeine Resignation im Hinblick auf eine schwache Wirtschaft, fehlende Inflation und dauerhaft niedrige Zinsen wider. Vielleicht könnte uns das in diesem Sommer noch eine Überraschung bescheren. Denn wie schon Sherlock Holmes wusste: «Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache.» Es bleibt spannend.


Didier Saint-Georges ist Managing Director bei Carmignac. Er ist seit 2007 bei dem französischen Vermögensverwalter tätig und wurde 2018 zum Mitglied des Strategic Investment Commitee ernannt. Seine Karriere begann er 1983 bei der Citibank im Bereich der Luftfahrzeug-Finanzierung.


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