4. Doppelte Moral

Die beteiligten Journalisten stuften die finanziellen Aktivitäten in sogenannten Steueroasen per se als moralisch unvertretbar ein und folgerten daraus, dass sie auch rechtswidrig seien. Das ist falsch, solange diese Argumentation nicht auf entsprechenden Gesetzesgrundlagen beruht. Denn was – je nach Auslegung – amoralisch ist, ist noch lange nicht illegal. Je nach Anschauung ist beispielsweise die Prostitution amoralisch. Dennoch ist sie in manchen Breitengraden legal. Die Gleichstellung von Moral und Legalität beruht auf einem diffusen, weltverbesserischen Verständnis, das in einer seriösen Recherche nichts zu suchen hat.

5. Ungleiche Behandlung

Die Qualität der Paradise Papers relativiert sich bald einmal, da die Praktiken einiger grosser Länder darin ausgeklammert werden. Das erinnert an Geschichtsklitterung totalitärer Staaten. Im Gegensatz zur (teilweise legitimen) Anprangerung mancher Steueroasen fehlt in den Enthüllungen jeglicher Hinweis darauf, dass beispielsweise die USA entschieden zum internationalen Steuerbetrug beitragen.

Sie weigern sich am Automatischen Informationsaustausch (AIA) mitzumachen, und sie tolerieren Briefkastenfirmen, die mehrheitlich dafür nützen, Steuern zu optimieren – möglicherweise auch zu hinterziehen. Und die USA haben auch kein Problem damit, dass Miami ein finanzielles Steuerfluchtzentrum ist.

Auch die EU kommt in der Recherche glimpflich weg, obwohl es in der europäischen Staatengemeinschaft trotz AIA und anderer Bemühungen nach wie vor Länder gibt, welche die Steueroptimierung oder gar -flucht nach Definition des ICIJ durchaus begünstigen.

6. Gewisse Sympathie

Dass die Enthüllungen in der Öffentlichkeit nicht für mehr Empörung sorgten, mag – paradoxerweise – auch damit zusammenhängen, dass viele Bürgerinnen und Bürger eine gewisse Sympathie für internationale Steueroptimierer hegen. Denn solange sie selber zu Hause vom Fiskus geschröpft werden, würden sie – hätten sie die selben Möglichkeiten – vielleicht auch Steueroptimierung betreiben, ganz legal.

7. Unschuldsvermutung missachtet

Last but not least, vernachlässigte das Journalistennetzwerk bei seinen Recherchen eine elementare Pflicht: die Unschuldsvermutung und der damit verbundene Anspruch auf (rechtliche) Anhörung.

Zwar erhielten einige betroffene Personen und Unternehmen die Gelegenheit, Stellung zu den Vorwürfen zu nehmen, aber zumeist erst nachdem das ICIJ seine Unterstellungen publiziert hatte. Diese Vorgehensweise, die selbstverständlich für einen grösseren medialen Effekt sorgt, ist heikel, besonders, wenn man als Journalist davon ausgeht, Recht und Moral auf seiner Seite zu haben.


Claude Baumann ist Mitgründer und Chefredaktor von finews.ch und finews.asia in Singapur. Er ist Autor mehrerer Bücher über die Finanzbranche, zuletzt erschien «Robert Holzach – Ein Bankier und seine Zeit» im Verlag Neue Zürcher Zeitung.


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