Die einst aufstrebenden Tigerstaaten Asiens sind heute mit Problemen konfrontiert: eine alternde Bevölkerung, schwindendes Wachstum und eine zunehmende Disparität der Einkommen.
Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. Die Auswahl der Texte liegt bei finews.ch.
In seinem Standardwerk «The Four Little Dragons» argumentiert der emeritierte Harvard-Professor Ezra F. Vogel, dass Taiwan, Südkorea, Hongkong und Singapur vor allem in den 1980er-Jahren dem exportorientierten Wirtschaftsmodell folgten, und es zu überdurchschnittlicher Prosperität brachten. Im Gegensatz zu anderen Nationen, die ihre Stellung nach einem oder gar erst nach zwei Jahrhunderten erreichten, schafften dies die sogenannten Tigerstaaten (auf Englisch und Chinesisch «die vier kleinen Drachen») in wenigen Jahrzehnten.
Doch die Welt der Tigerstaaten ist nicht stehengeblieben. Hongkongs wachsendes politisches und wirtschaftliches Malaise, Taiwans riskante Bemühungen mit Trumps Amerika zu sympathisieren, Südkoreas Massendemonstrationen gegen Präsident Park Geun-hye und Singapurs Versuche, das wirtschaftliche Wachstum anzukurbeln, beruhen allesamt auf den mehr oder weniger ähnlichen Ursachen – einer alternden Bevölkerung und einer sich abschwächenden Wirtschaftsdynamik.
«Vom Entwicklungsland zur Industrienation in nur einer Generation»
Vor einem halben Jahrhundert begaben sich die vier «Tiger» in eine Phase rasanter Industrialisierung, angefangen mit Hongkongs Textilindustrie in den 1960er-Jahren, gefolgt von der exportorientierten Wirtschaftspolitik von Lee Kuan Yew in Singapur, der Modernisierung und Exportexpansion in Taiwan durch die Nationale Volkspartei Chinas (Kuomintang) sowie in Südkorea durch den kontroversen Militär und Politiker Park Chung-hees. Das war die Basis, dass sich die vier Tigerstaaten von den frühen 1960er-Jahren bis in die 1990er-Jahren überdurchschnittlich hoher Wachstumsraten erfreuen konnten, was wiederum dazu führte, dass sich diese einstigen Entwicklungsländer in nur einer Generation zu Industriestaaten wandelten, oder wie es Lee Kuan Yew etikettierte: «From third world to first world».
Von den vier Tigerstaaten besass 1960 Hongkong den höchsten Lebensstandard. Dahinter folgten Singapur, Taiwan und Südkorea, allerdings lagen sie noch weit hinter den USA und Japan zurück. Südkorea, mit dem tiefsten Lebensstandard der vier «Tiger», besass damals ein «Wohlstandsniveau», das zehn Prozent desjenigen der USA betrug. Das änderte sich erst in den 1980er-Jahren, als die stärkste Phase der Industrialisierung einsetzte. In Hongkong lag der Lebensstandards bloss noch 25 Prozent hinter demjenigen in Japan – aber immer noch 45 Prozent tiefer als in den USA.
«Heute ist der Wohlstand in Singapur 35 Prozent höher als in den USA»
In der Regel verlangsamt sich die wirtschaftliche Dynamik mit zunehmender Industrialisierung. Nicht so bei den vier Tigerstaaten, die zusätzlich davon profitierten, dass China in den 1980er-Jahren Wirtschaftsreformen vornahm und auf eine Politik der Öffnung umschwenkte. Das sicherte Hongkong, Taiwan, Singapur und Südkorea weitere Jahrzehnte an überdurchschnittlichem Wachstum. Als Folge davon ist heute der Lebensstandard in allen Tigerstaaten, mit Aussnahme Südkoreas, höher als in Japan. Und bemerkenswerterweise ist der Wohlstand in Singapur heute 35 Prozent höher als in den USA; Hongkong hat das amerikanische Niveau erreicht.
Doch das alles ist nicht in Stein gemeisselt. Im laufenden Jahr beispielsweise hofft die Regierung in Singapur auf ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) zwischen zwei und drei Prozent, während Analysten lediglich ein Plus von weniger als zwei Prozent erwarten. Trotz eines starken vierten Quartals 2016 ringt der Stadtstaat am Äquator mit wirtschaftlichen Ermüdungserscheinungen. Wie sich die Leistungsbilanz heuer entwickeln wird, ist ungewisser denn je, angesichts des weltweit wiedererwachten Protektionismus’ und der diversen regionalen Konfliktpotenziale.
Wie Hongkong muss sich auch Singapur mit den erwarteten Zinserhöhungen der US-Notenbank auseinandersetzen und ist gleichzeitig mit einem ausgetrockneten Arbeitsmarkt und rückläufigen Immobilienpreisen konfrontiert. Vor diesem Hintergrund hält der Stadtstaat nicht nur in China nach weiterem Wachstum Ausschau, sondern mittels vertiefter wirtschaftlicher Integration und Zusammenarbeit auch mit Malaysia oder der indonesischen Provinz Riau im Osten der Insel Sumatra.
«Hongkong versäumt es, wirtschaftliche Integrationschancen in der Region zu nutzen»
In Hongkong sind die wirtschaftlichen Aussichten zwar besser und Fachleute erwarten ein BIP-Wachstum von rund zwei Prozent. Doch die Zukunft der einstigen britischen Kronkolonie ist überschattet von politischer «Angst». Zudem ist Hongkong deutlich stärker als Singapur den Liquiditätsschwankungen an den Finanzmärkten, dem befürchteten US-Handelsprotektionismus und Chinas wirtschaftlicher Neuausrichtung in der Region ausgesetzt. Und im Gegensatz zu Singapur hat es Hongkong verpasst und versäumt es weiterhin, wirtschaftliche Integrationschancen in der Region zu nutzen. Derlei Nachlässigkeiten offenbarten sich nicht zuletzt in der Verurteilung des früheren Verwaltungschefs Hongkongs, Donald Tsang, wegen Amtsmissbrauch und Korruption. Sie zeigen sich aber auch in der schwachen Akzeptanz seines Nachfolgers Leung Chun-ying.
Südkoreas BIP-Wachstum ist auf 2,6 Prozent gesunken, und die wirtschaftliche Dynamik ist moderat. Weder der Aussenhandel noch die Binnennachfrage, die allerdings unter den überschuldeten Haushalten leidet, haben es geschafft, für einen neuerlichen Aufschwung zu sorgen. Und während die südkoreanische Zentralbank auf die zunehmende Teuerung demnächst mit einem Zinsschritt reagieren dürfte, machen der Regierung in Seoul die Konjunkturabkühlung in China und der US-Protektionismus zu schaffen. Zudem ist es nicht ausgeschlossen, dass die Administration Trump in Washington den Südkoreanern Währungsmanipulationen vorwerfen könnte.
In Taiwan wiederum dürfte das BIP-Wachstum im laufenden Jahr vermutlich 1,7 Prozent betragen. Wie Hongkong ringt das Land mit wirtschaftlichen und politischen Friktionen. Erstere haben mit dem Reifungsprozess Taiwans als Industrienation zu tun, letztere sind selbstverschuldet und könnten zu einer rückläufigen Investitionstätigkeit im Land führen, so dass sich die Reibungen mit China über kurz oder lang auf die Handelsbilanz auswirken dürften.
«Ein hoher Lebensstandard erfordert ein solides Wachstum und eine starke Produktivität»
Kurzum, die vier Tigerstaaten altern, und sie funktionieren langsamer als auch schon. Aufgrund der demographischen Veränderungen sinkt die Geburtsquote, während die Lebenserwartung steigt. Hinzu kommt, dass der relativ hohe Lebensstandard in den vier Ländern die wachsende Einkommensdisparität verdeckt. Oder anders ausgedrückt: Das Einkommensgefälle, gemessen am Gini-Koeffizient, ist mit einem Wert 45 in den USA am höchsten, während es in Japan mit 32 sowie in Frankreich und Deutschland (beide unter 30) wesentlich tiefer ist. Im Vergleich dazu ist der Koeffizient in den Tigerstaaten mit einem Finanzzentrum (Hongkong mit 54 und Singapur mit 46) erheblich höher als in den «High-Tech-Nationen» Taiwan (34) und Südkorea (30).
Auf lange Sicht erfordert ein hoher Lebensstandard jedoch ein solides Wirtschaftswachstum und eine starke Produktivität, was auf nachhaltige Innovationen bedingt. Drei Tigerstaaten verfügen durchaus über technologische Innovationen, wie es die Ausgaben für Forschung und Entwicklung gemessen am BIP veranschaulichen: Mit 4,3 Prozent zählt Südkorea sogar zu den führenden Ländern dieser Welt, gefolgt von Taiwan mit 3 Prozent und Singapur mit 2,5 Prozent. Im Gegensatz dazu zählt Hongkong mit 0,7 Prozent zu den Schlusslichtern unter den industrialisierten Nationen.
«Sie werden die Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte erleichtern müssen»
Soviel ist klar, alle vier «Tiger» benötigen strukturelle Reformen und eine wachstumsorientierte Politik, um ihre Produktivität zu steigern und die Innovationsfähigkeit sowie weitere Investitionen in Forschung und Entwicklung zu sichern. Zudem müssen sie mehr Wettbewerb zulassen und die Gründung von Jungunternehmen vereinfachen. Gleichzeitig werden sie nicht umhinkommen, das Pensionsalter zu erhöhen, die Einwanderung von qualifizierten Arbeitskräften zu erleichtern, mehr Frauen in die arbeitstätige Bevölkerung zu integrieren und bei den Staatsausgaben eine höhere Effizienz anzustreben.
Eine stärkere Betonung des Humankapitals erfordert auch eine progressivere Besteuerung und wirksame Massnahmen zur Verringerung der Einkommensdisparität sowie einen Ausbau Gesetze im Arbeitsmarkt. Schliesslich werden die vier Tigerstaaten angesichts der nachlassenden Wirtschaftsdynamik eine intensivere regionale Integration anstreben und vermehrt auf internationale Handels- und Wirtschaftsabkommen setzen müssen. Ohne derlei Interventionen droht allen vier Ländern eine schleichende und damit höchst gefährliche Stagnation.
Dan Steinbock ist Gründer der Difference Group und hat als Forscher am India, China and America Institute (USA) gearbeitet und war als Visiting Fellow an den Shanghai Institutes for International Studies (China) sowie am EU Centre (Singapore) tätig. Der Text erschien unlängst auch in der «South China Morning Post».
Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Peter Kurer, Oliver Berger, Rolf Banz, Samuel Gerber, Werner Vogt, Walter Wittmann, Alfred Mettler, Robert Holzach, Craig Murray, David Zollinger, Arthur Bolliger, Beat Kappeler, Chris Rowe, Stefan Gerlach, Marc Lussy, Samuel Gerber, Nuno Fernandes, Beat Wittmann, Richard Egger, Didier Saint-Georges, Dieter Ruloff, Marco Bargel, Steve Hanke, Urs Schoettli, Maurice Pedergnana, Stefan Kreuzkamp, Katharina Bart, Oliver Bussmann, Michael Benz, Albert Steck, Andreas Britt, Martin Dahinden, Thomas Fedier, Alfred Mettler, Frédéric Papp, Brigitte Strebel, Peter Hody, Mirjam Staub-Bisang, Guido Schilling, Claude Baumann, Adriano B. Lucatelli, Nicolas Roth, Thorsten Polleit und Kim Iskyan.