Auch wenn eine Vertagung des Prozesses im Fall Vincenz vom Gericht abgewendet worden ist, wird klar: In diesen Verhandlung ist die Zeit ein strategischer Faktor.
Gleich zum Auftakt am (gestrigen) Dienstag drohte der Strafprozess im Fall Vincenz auf unbestimmte Zeit zu vertagt zu werden. Wegen der krankheitsbedingten Abwesenheit von zwei Nebenbeschuldigten forderten die Verteidiger unisono den Abbruch der Verhandlungen.
Gerichtspräsident Sebastian Aeppli nutzte seine Ermessensspielraum in dieser wichtigen Frage und entschied dann anders. Die drei weiteren Prozesstage diese Woche finden wie geplant statt. Das rechtliche Gehör sei gewährleistet, erklärte der Magistrat noch am selben Tag.
Zusatztage im März
Dennoch musste Aeppli zusätzlich vier Prozesstage im März konzedieren, um dem Umfang der Verhandlungen gerecht zu werden. Damit zeigt sich ein Kernproblem des Zürcher Bezirksgerichts: Die Zeit ist angesichts der Komplexität des Falls zum strategischen Faktor geworden. So tickt für die Anklage die Uhr der Verjährung, während manche Beschuldigte das Verfahren gar in der Zeit zurückdrehen möchten.
Bereits der erste Prozesstag vom Dienstag wurde nun zur Hälfte für umfangreiche Vorfragen verwendet; deren Würdigung beanspruchte das Gericht um weitere Stunden. Zu verantworten haben sich vor dem Bezirksgericht neben dem ehemaligen Chef von Raiffeisen Schweiz, Pierin Vincenz, auch dessen langjähriger Vertrauter und früherer Aduno-CEO Beat Stocker. Ebenfalls angeklagt sind fünf weitere Personen.
Ein rechtes Schwergewicht
Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen Vincenz und Stocker umfassen ungetreue Geschäftsbesorgung, gewerbsmässiger Betrug und Urkundenfälschung sowie passive Bestechung. Anderen Beschuldigten wirft die Anklage Gehilfenschaft und unlauteren Wettbewerb vor. Dies im Zusammenhang mit Firmenübernahmen von Raiffeisen Schweiz, Aduno (der heutigen Viseca) sowie der einstigen Aduno-Tochter Cashgate. Die Zürcher Staatsanwaltschaft hat Vincenz und Stocker zudem wegen unberechtigten Spesenbezügen und damit Veruntreuung angeklagt.
Die Beschuldigten bestreiten die Vorwürfe; für sie alle gilt die Unschuldsvermutung. Ebenfalls steht der Gang durch die Instanzen offen.
Die Zahl der Beschuldigten und die Vorwürfe rund um komplexe Firmen-Transaktionen haben diesen Prozess zu einem Schwergewicht werden lassen, worauf allein schon die mehr als 350 Seiten starke Anklageschrift schliessen lässt. Entsprechend zogen sich die Vorbereitungen im Rahmen der Vorverfahrens in die Länge; mit dem Prozessbeginn war ursprünglich im Jahr 2019 gerechnet worden.
Bei Commtrain tickt die Uhr
Dass das Bezirksgericht die öffentlichen Verhandlungen nun mitten in der fünften Coronawelle «durchzieht», ist ein weiteres Indiz, welche Bedeutung dem Faktor Zeit zukommt. Die von Chefankläger Marc Jean-Richard-dit-Bressel eingeklagten Firmen-Deals spannen sich von 2006 bis ins Jahr 2017. Enstprechend ist die Verjährung zu einer Gefahr für die Bestrebungen der Staatsanwaltschaft geworden.
Noch ist dieses Risiko für die Anklage nicht akut. Die «älteste» der beanstandeten Firmenübernahmen, jene von Commtrain durch Aduno, ging im Jahr 2006 in die abschliessenden Verhandlungen zum Aktienkaufvertrag. 2007 wurde der Vertrag mit den Eigentümern unterschrieben. Nach Strafrecht verjährt ein Vorwurf ab 15 Jahren, aus zivilrechtlicher Sicht bereits nach deren zehn. Insofern könnte, je nach juristischer Sichtweise, die Causa Commtrain kommenden April verjähren. Da Aduno die Beteiligung von Vincenz erst 2016 entdeckte, könnte aber auch dieses Datum als Ausgangspunkt für die Verjährung herangezogen werden.
Zusatzklage eingereicht
Dies hat die als Privatkläger auftretende Bank Raiffeisen Schweiz – die Gruppe hatte Commtrain mit Krediten gestützt – und Aduno (heute Viseca) aus der Reserve gelockt. Wie auch finews.ch berichtete, haben die Firmen in den letzten Tagen eine so genannte Adhäsionsklage eingereicht. Damit wollen die Kläger Geldforderungen gegenüber den Hauptbeschuldigten Vincenz und Stocker direkt in den Prozess integriert sehen. Die Forderungen gegenüber den Beschuldigten belaufen sich auf rund 25 Millionen Franken.
Demgegenüber geht die Verteidigung auffallend large mit der Zeit um. Beschuldigte forderten am Dienstag unter anderem die Neuaufnahme des Vorverfahrens und neuerliche Gutachten. Darüber könnten Monate, wenn nicht Jahre verstreichen.
Das ruft eine Taktik in Erinnerung, welche die Strafverteidigung im Vorverfahren anwandte: Auf Antrag der Beschuldigten wurden mutmassliche Beweismittel auf Antrag der Beschuldigten versiegelt. Die Ermittler mussten darauf mühsam auf dem Gerichtsweg die Entsieglung verfügen lassen – ansonsten hätten sie die beschlagnahmten Akten, Festplatten und Mobiltelefone nicht auswerten dürfen.
Auf Dauer dispensiert
Ebenfalls stark beschäftigt war die Anklage nach eigenen Angaben damit, die gesammelten Beweismittel so zu kategorisieren, dass sie auf Wunsch einzelner Beschuldigter den anderen Parteien nicht zugänglich waren, was das Gericht in einer Verfügung später weitgehend rückgängig gemacht hat.
Derweil blickt das Gericht bereits in die nähere Zukunft: Am 9. März soll der eine abwesende Beschuldigte befragt werden. Der andere am Prozess fehlende Beklagte ist am gestrigen Dienstag nun ganz dispensiert worden. Er gilt aufgrund eines neurologischen Leidens als dauerhaft verhandlungsunfähig.