Der Staub nach der Zinssenkung der Nationalbank hat sich gelegt. Dadurch wird die Sicht auf den «Elefanten» wieder frei – die immer noch gigantische Notenbankbilanz. Eine Einordnung des Problems.
Der Staub, den der Entscheid der Schweizerischen Nationalbank (SNB) am vergangenen Donnerstag aufwirbelte, hat sich gelegt. Die Akteure am Geld- und Devisenmarkt haben die Senkung des Leitzinses um einen Viertelprozentpunkt rasch verarbeitet: Der Franken hat sich zum Euro abgeschwächt, aber nur leicht, war doch der Schritt angesichts der Unsicherheit im Vorfeld der vorgezogenen Wahlen in Frankreich nur halbwegs unerwartet erfolgt.
Die Ökonomen und Strategen von Banken haben den Entscheid analysiert und kommentiert und – für die Zukunft natürlich wichtiger als die Vergangenheitsbewältigung – ihre Zins- und weitere Finanzmarktprognosen angepasst. Die Medien haben ihre Berichterstattung zur geldpolitischen Lagebeurteilung ebenfalls weitgehend abgehakt. Schliesslich dürften die Auswirkungen einer Viertelprozentpunkt-Senkung auf das längerfristige Gedeihen der Schweizer Volkswirtschaft und des Finanzplatzes einigermassen überschaubar bleiben.
Wenig mitteilungsbedürftige SNB
Mediale Themen waren ausser dem Zinsentscheid die Forderungen, welche die SNB bei der Präsentation des Finanzstabilitätsberichts in puncto Reform der Bankenregulierung stellte, wobei natürlich die künftig gewünschte Höhe der Eigenmittel in der Bilanz der letzten Schweizer Grossbank UBS speziell interessierte.
Doch wenn es um ihre eigene Bilanz geht, verspürt die SNB offenbar weniger Mitteilungsbedürfnis. Zur Erinnerung: Die Summe der Notenbankbilanz beträgt immer noch etwa 850 Milliarden Franken, deutlich mehr als das Bruttoinlandprodukt, also die Wertschöpfung der ganzen Schweizer Wirtschaft in einem Jahr (die 2023 in der Grössenordnung von 800 Milliarden liegen dürfte).
Unter der Schwelle von 1 Billion Franken
Immerhin knackt die SNB mit ihrer Bilanzsumme heute nicht mehr – wie dies 2021 und 2022 zeitweise der Fall gewesen war – die psychologisch bedeutende Marke von 1 Billion Franken; allerdings hat der Wert im laufenden Jahr wieder etwas zugenommen. Und seit 2019, als der damalige Finanzminster Ueli Maurer sein Missbehagen über das Bilanzwachstum öffentlich bekundete, ist die SNB von bundesrätlicher Kritik verschont geblieben.
Die auch im internationalen Vergleich gewaltige Notenbankbilanz ist ein Vermächtnis der Finanzkrise. Zuvor pendelte der Bilanzwert jahrelang um 100 Milliarden Franken. Die enormen Devisenkäufe, mit denen die SNB ab 2009 (vor, während und nach dem Mindestkursregime mit 1.20 Franken zum Euro von September 2011 bis Januar 2015) ihre Geldpolitik im Kampf gegen die Aufwertung der Landeswährung umsetzte, führten in der Folge zu einem rasanten Bilanzwachstum.
Ein Erbe der Finanzkrise und des Kampfs gegen die Frankenstärke
Die Devisenanlagen bilden denn auch mit Abstand den grössten Posten auf der Aktivseite. Anlagen deshalb, weil die SNB die Devisen nicht in Cash, sondern in Form von Anleihen und Aktien in Fremdwährung hält. Ende 2023 waren es rund 670 Milliarden Franken, bei einer Bilanzsumme von knapp 800 Milliarden, was mit entsprechend hohen Bewertungsrisiken (Börsen, Zinsen, Wechselkurs) verbunden ist.
Auf Platz 2 folgen mit grossem Abstand die Goldreserven, die Ende Jahr knapp 60 Milliarden wogen, und auf Platz 3 mit 40 Milliarden die gedeckten Darlehen, also die Kredite, mit denen die SNB zum einen die Banken für die Corona-Hilfen günstig refinanzierte (als die Banken Teil der Lösung eines Problems waren) und zum anderen die Credit Suisse in der Krise versorgte (als die Grossbank selber das Problem war).
SNB will Eigenkapital weiter erhöhen
Weil die SNB die Devisen von Banken mit neugeschaffenen Franken erwarb, dominieren auf der Passivseite die (von der SNB in der Regel zum Leitsatz verzinsten) Girokonten inländischer Banken (450 Milliarden). Es folgen die Verbindlichkeiten aus den eigenen Schuldverschreibungen (SNB Bills) und den Repogeschäften (87 und 63 Milliarden). Mit diesen beiden geldpolitischen Instrumenten kann die SNB ihre Geldpolitik trotz hoher Überschussliquidität am Geldmarkt durchsetzen, das heisst, den kurzfristigen Marktzins in die Nähe ihres Leitzinses bringen. Und mit eigenen Mitteln von rund 63 Milliarden erreichte die SNB zum Jahresende eine Eigenkapitalquote von etwa 8 Prozent.
Die SNB betont regelmässig, dass sie eine robuste Bilanz mit hinreichendem Eigenkapital anstrebt, um auch grosse Verluste absorbieren zu können. Deshalb sind ab 2009 die Zuweisungen an die Rückstellungen schrittweise erhöht worden. Die Rückstellungen bilden das angestrebte Niveau des Eigenkapitals ab und lagen Ende 2023 mit 105 Milliarden deutlich über dem tatsächlichen Bestand. Deshalb klaffte in der sogenannten Ausschüttungsreserve, de facto eine Ausgleichsposition, ein Loch von 40 Milliarden Franken.
Wo liegt die optimale Bilanzgrösse?
Während die Währungshüter beim Eigenkapital also einen ziemlich klaren Kurs fahren, fehlen Indikationen der SNB dazu, wie gross die Bilanzsumme und entsprechend die damit verbundenen Verlustrisiken denn längerfristig sein sollen. Dafür gibt es einen guten Grund: Die Bilanz und ihre Zusammensetzung werden weitgehend von den geldpolitischen Entscheiden und deren Umsetzung bestimmt. Wenn sich die SNB also heute zu einer konkreten Zielgrösse bekennen würde, beschnitte dies möglicherweise ihren künftigen geldpolitischen Handlungsspielraum.
In einer Zeit, in der die Geldpolitik mangels klarer Orientierung auf Sicht fährt, ist das ein besonders valables Argument. Zudem ist in der heutigen Gemengelage auch gar nicht so klar, wie ein Zinsentscheid auf die Bilanz wirkt. Die jüngste Zinssenkung könnte es der SNB beispielsweise einerseits erleichtern, auf weitere Devisenkäufe und damit auf eine Bilanzausweitung zu verzichten. Andererseits führt eine durch die Senkung herbeigeführte Frankenschwäche dazu, dass die Devisenanlagen zwangsläufig höher bewertet werden – und sich die Bilanz entsprechend verlängert.
Selbst die Bilanz der Zentralbank hat Grenzen
Gleichwohl wäre etwas mehr Transparenz hinsichtlich der künftigen Bilanzgrösse wünschenswert und auch nicht völlig unmöglich. Wer dazu von Seiten der SNB einigermassen belastbare Hinweise sucht, muss relativ weit zurückblättern – und wird in einem Referat fündig, dass der scheidende (und deswegen wohl auch etwas freimütiger auftretende) Vizepräsident des Direktoriums im Mai 2015 hielt, also wenige Monate nach der Knall-auf-Fall-Aufhebung des Mindestkurses.
Jean-Pierre Danthine bezeichnet darin den Glauben, dass eine Zentralbank ihre Bilanz ohne Risiken und damit grenzenlos ausweiten könnte, als Fiktion. «Diese Fiktion widerspricht dem gesunden Menschenverstand und ist vor allem in Akademikerkreisen anzutreffen», kritisiert der selber durchaus akademisch versierte Vize.
Grössere Bilanz heute, weniger Spielraum morgen
Die Zentralbankbilanz könne zwar niemals ein Ziel für sich sein, die Risiken und Kosten einer Bilanzausweitung müssten aber bei der Geldpolitik berücksichtigt werden müssten. Danthine verteidigt die Aufhebung des Mindestkurs mit dem Argument, eine Fortführung hätte eine «permanente, möglicherweise unkontrollierbare Ausweitung der SNB-Bilanz» bedeutet. Dadurch hätten sich die mit einer solchen Politik eingegangenen Risiken massiv erhöht, und die mit einer künftigen Normalisierung verbundenen geldpolitischen Risiken wären erheblich gewesen.
«Eine geldpolitische Normalisierung in der Zukunft wird unweigerlich den Abbau von Überschussliquidität bedingen, um mögliche Inflationsrisiken einzudämmen». Danthine sorgte sich damals notabene um eine Bilanz, die «nur» 90 Prozent des BIP entsprach. «Bilanzausweitungen schränken stets den künftigen Handlungsspielraum der SNB ein, und zwar genau deshalb, weil damit die Latte für einen gewünschten weiteren Einsatz der Bilanz zu geldpolitischen Zwecken noch höher gesetzt wird.»
Ein Fall für Jordan?
Nachdem sich der Staub gelegt hat, wird der Elefant, die SNB-Bilanz, wieder besser sichtbar. Präsident Thomas Jordan, der Ende September aus dem Direktorium der SNB ausscheiden wird, hat sich in seinem letzten Referat Ende Mai in Korea dem neutralen Zinssatz als Referenzpunkt der Geldpolitik gewidmet, unzweifelhaft eine wichtige Frage.
Auf dem Terminkalender der SNB sind zurzeit keine weiteren Auftritte Jordans mehr angekündigt. Sollte er aber doch noch ein Abschlussreferat in der Schweiz zu halten gedenken, böte sich dafür die in seiner Amtszeit massiv gewachsene Bilanz mit den entsprechenden Implikationen für die Geldpolitik als Thema geradezu an.