Wird die SNB den Leitzins am Donnerstag erneut senken? Die Geldpolitik fährt zurzeit auf Sicht. Weil klare Orientierungspunkte fehlen, stochern auch die Prognostiker im Nebel. Zudem tritt der langjährige Direktoriumspräsident ab. Ein unabhängiger Ökonom nutzt die Gunst der Stunde für Kritik am geldpolitischen Konzept.

Am Donnerstag ist es soweit: Die Schweizerische Nationalbank (SNB) wird um 9.30 Uhr zum Abschluss ihrer vierteljährlichen Lagebeurteilung ihren Zinsentscheid bekanntgeben. Kurz danach wird das für die Geldpolitik verantwortliche Direktorium den Medien Red und Antwort stehen. Bereits vor Börseneröffnung, um 6.30 Uhr, wird die SNB mit dem jährlichen Bericht zur Finanzstabilität ein Dokument publizieren, das in Bankenkreisen ebenfalls auf grosses Interesse stossen wird.

Die Spannung vor dem Zinsentscheid ist diesmal besonders hoch, weil die Zeichen an der für die Entscheidungsfindung der SNB massgebenden Teuerungsfront nicht eindeutig sind und es gute Argumente sowohl für ein Fortführen als auch für ein Pausieren der geldpolitischen Lockerung gibt. Die SNB hatte an der letzten Lagebeurteilung im März ihren Leitzins von 1,75 auf 1,50 Prozent gesenkt – und ist damit zur Vorreiterin im weltweiten Zinssenkungszyklus der Zentralbanken avanciert.

Vorsichtige Bankökonomen

Der SNB-Leitzins gibt dem Frankengeldmarkt die Richtung vor. Durch ihre geldpolitischen Operationen hält die SNB die kurzfristigen Geldmarktsätze (insbesondere den Tagesgeldsatz Saron) nahe am Leitzins. Ausserdem ist dieser die Referenz für die Zinsen, welche die SNB den Banken für die Sichtguthaben zahlt, die diese bei ihr halten. Die Geldmarktsätze sind wiederum ein wichtiger (wenn auch nicht der einzige) Faktor für die Entwicklung der Zinsen für Vermögenswerte oder Verbindlichkeiten mit längeren Laufzeiten, also z.B. für Bundesanleihen oder Hypothekarkredite. 

Die Ambivalenz spiegelt sich auch in den expliziten und impliziten Prognosen der Banken respektive der Finanzmärkte. So verweist Raiffeisen-Ökonom Alexander Koch darauf hin, dass sich die Preisrisiken aufgrund der Abschwächung des Frankens tendenziell leicht erhöht hätten. Daher sehe seine Bank «unverändert gute Gründe für die SNB, ihr weniges Pulver erst einmal trocken zu halten», hält Koch fest, um gleich anzufügen, dass die SNB einen weiteren Zinsschritt durchaus rechtfertigen könne.

Jordan

Thomas Jordan: Bis Ende September Präsident des Direktoriums (Bild: SNB).

EZB und Fed treiben den Frankenkurs

Auch die UBS rechnet damit, dass sich die SNB nicht bewegen wird. Sie hat nach der vorsichtigen Zinssenkung der Europäischen Zentralbank von Anfang Juni ihre Prognose quasi nach hinten geschoben: «Wir glauben weiterhin, dass die SNB ihren Leitzins allmählich auf 1 Prozent senken wird, aber die Geschwindigkeit, mit der sie dies tun wird, ist wahrscheinlich langsamer, als wir ursprünglich angenommen haben.» Neu geht UBS von einem Zinsschritt erst im September aus und betont, dass in diesem Umfeld die Entscheidungen der EZB und der US-Zentralbank Treiber des Wechselkurses des Frankens seien.

Der Wechselkurs ist ein wesentlicher Faktor für die Inflation in der Schweiz: Ein starker Franken dämpft die Teuerung, ein schwacher heizt sie an. Aufgrund der grossen Bedeutung des Aussenhandels für die offene und international vernetzte Schweizer Volkswirtschaft ist der Einfluss des Wechselkurses auf die Preisentwicklung grösser als in anderen Ländern.

Proaktiv senken?

Im Lager der Lockerungsanhänger sitzt hingegen Martina Honegger-Romahn, bei Allianz Global Investors verantwortlich für das Portfolio Fixed Income Schweiz. Die zuletzt ausgewiesene Jahresteuerung von 1,4 Prozent, die über den Inflationserwartungen liege, deute zwar darauf hin, dass die SNB den Leitsatz unverändert belassen würde. Doch ein grosser Teil der Inflation lasse sich auf steigende Mietpreise zurückführen, ein Effekt, der bald auslaufe.

Durch die Zinssenkung der EZB habe sich die Zinsdifferenz zu Euroland verringert, was Aufwertungsdruck auf den Franken ausübe. Aufgrund des tiefen Niveaus von 1,5 Prozent sei der Spielraum der SNB für Senkungen zwar beschränkt, schränkt Honegger-Romahn ein. Und doch empfiehlt sie eine Vorwärtsstrategie: Am effektivsten sei es für die SNB, «der Entwicklung einen Schritt voraus zu sein, indem sie die Zinssätze senkt und die monetären Bedingungen lockert, was wahrscheinlich zu einer Abwertung des Frankens führen würde».

Europawahl und Franken: Episode oder neuer Trend?

Die SNB muss in ihrem Entscheid auch die jüngste Entwicklung an der Währungsfront einbeziehen. Nach den Wahlen ins Europaparlament hat sich der Franken, der seit Anfang Jahr eine eher ungewohnte Schwächephase durchlief, wieder etwas aufgerappelt. Handelt es sich dabei nur um eine vorübergehende Korrektur oder den Beginn eines neuen Trends? Länger anhaltende politische Unsicherheiten im Ausland (und speziell in grossen Nachbarländern wie Frankreich) sind erfahrungsgemäss ein Stimulans für den Frankenkurs.

Zu berücksichtigen hat die SNB auch die Entwicklung der Konjunktur. Hier sind die Signale ebenfalls nicht eindeutig. Am Dienstag revidierte die Expertengruppe Konjunkturprognosen des Bundes ihre Wachstumsschätzung des Bruttoinlandprodukts (BIP) für dieses Jahr leicht nach oben auf 1,2 Prozent, was aber immer noch unterdurchschnittlich ist. Unverändert rechnen die Experten damit, dass das BIP-Wachstum nächstes Jahr 1,7 Prozent betragen und sich damit «normalisieren» wird.

Fundamentalkritik an der Geldpolitik

Fast so viel Spannung wie der Zinsentscheid selber verspricht die Inflationsprognose, welche die SNB am Donnerstag aktualisieren wird. Es handelt sich dabei um eine Voraussage der Teuerungsentwicklung über die nächsten drei Jahr, bei der von einem unveränderten Leitzins ausgegangen wird und die deshalb als«bedingte Prognose»bezeichnet wird. Die Inflationsprognose gilt als Hauptindikator des geldpolitischen Entscheids und als wichtiges Instrument für die Kommunikation der SNB, die den Auftrag hat, die Preisstabilität zu sichern.

Allerdings ist die Qualität der Prognose nicht unumstritten. In seiner jüngsten Kapuzinerpredigt geisselt der unabhängige Ökonom Adriel Jost die Mängel der Konzepte und der Umsetzung der Geldpolitik führender Zentralbanken – und spart dabei die SNB nicht aus.

SNB nicht besser als andere Zentralbanken

Sie tue so, als ob ihren Inflationsprognosen weiterhin zu trauen sei. Mit Blick auf die in der jüngeren Vergangenheit teilweise massiven Abweichungen der Prognosewerte von der Realität hält Jost leicht süffisant fest: «Ihre Inflationsprognose-Modelle sind allerdings ebenfalls ‹State of the Art› – was, wie wir gesehen haben, leider kein Kompliment ist. Auch die SNB verschlief die Post-Corona-Inflation dementsprechend.»

Zwar habe die Inflation in der Schweiz weniger überschossen als in anderen Ländern, räumt Jost ein. Doch dies ist offenbar nicht den besonderen Fähigkeiten der Schweizer Geldpolitiker geschuldet. «Das Glück der SNB war erstens die zurückhaltende Fiskalpolitik in der Schweiz, weil die SNB darum keine Fiskaldefizite finanzieren musste und das Geldmengenwachstum vergleichsweise gering ausfiel – und zweitens, dass die Wirtschaft dank dem vorteilhaften Energiemix hierzulande einen deutlich kleineren Energiepreisschock zu verdauen hatte.»

Revirement im Direktorium

Der Zeitpunkt für eine kleine Grundsatzkritik ist nicht schlecht gewählt. Die Tatsache, dass es seit einiger Zeit schwierig ist, treffsichere Prognosen zu Zinsentscheiden zu stellen, zeigt zum einen, dass die SNB wie andere Zentralbanken auf Sicht fährt. Zum anderen steht eine personelle Veränderung des Direktoriums bevor.

Präsident Thomas Jordan, der die Geldpolitik der SNB seit 2012 prägt (und der Ende der 1990er-Jahre auch schon bei der Ausarbeitung des bis heute gültigen geldpolitischen Konzepts dabei war), tritt per Ende September zurück. Die nächste geldpolitische Lagebeurteilung findet erst wenige Tage vor seiner Pensionierung statt, am 26. September, und dürfte daher ohne ihn über die Bühne gehen.

Schlegel

Verantwortlich für die Finanzstabilität: Vize Martin Schlegel (Bild: SNB).

Finanzstabilitätsbericht: Botschaften an die Adresse der UBS

Möglicherweise wird das neu zusammengesetzte Direktorium sich gegenüber solcher Kritik am Konzept dereinst etwas offener zeigen. In der Pole-Position für die Nachfolge als Präsident steht offenbar Vizepräsident Martin Schlegel. Ziemlich klar ist aus heutiger Sicht, dass das Direktorium, dem zurzeit als dritter Mann Antoine Martin angehört, aus politischen Gründen wieder durch eine Frau komplettiert werden muss – auch wenn gemäss Nationalbankgesetz das Geschlecht kein Kriterium für die Wahl in das Gremium darstellt. Wahlbehörde ist der Bundesrat, der Bankrat unterbreitet entsprechende Vorschläge.

Schlegel ist Vorsteher des II. Departements und damit verantwortlich für die Finanzstabilität. Er wird deshalb am Donnerstag auch die aus Sicht der SNB wichtigsten Erkenntnisse aus dem Finanzstabilitätsbericht präsentieren. Standen vor einem Jahr noch die Bewältigung der CS-Krise und die Rolle, welche die SNB dabei spielte, im Zentrum, dürfte Schlegel diesmal die Gelegenheit nutzen, Unterstützung für den härteren Kurs des Eidgenössischen Finanzdepartements und der Finanzmarktaufsicht Finma gegenüber der letzten verbliebenen Schweizer Grossbank zu signalisieren. Immerhin sind dabei die Punkte, an denen sich die SNB orientieren dürfte, gut auszumachen – ganz im Gegensatz zur Geldpolitik.