Das Ende der Negativzinsen in der Schweiz ist Fakt. Damit zeichnet sich erstmals nach Jahren Bewegung bei den Sparzinsen ab – was für so manche Bank höchst unangenehm werden könnte, wie eine Analyse von finews.ch zum Schluss kommt.
«Ein Run wäre natürlich eine tolle Sache!», sagte Markus Schwab vergangenen August zu finews.ch. Damals hatte der CEO der Banking-App Yuh gerade Sparzinsen von 0,5 Prozent lanciert, und damit das Ende der Negativzinsen in der Schweiz vorweggenommen – genauso wie die Aussicht auf steigende Sparzinsen.
Am heutigen Donnerstag hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) nun den Leitzins erwartungsgemäss von -0,25 auf 0,5 Prozent angehoben. Damit – effektiv am (morgigen) Freitag – endet hierzulande die Ära der Strafzinsen, nachdem die SNB Ende 2014 erstmals Negativzinsen verhängt hatte.
Hartnäckig bei Null
Tatsächlich fanden sich schon zuvor viele für das hiesige Finanzgefüge wichtige Sätze im Plus. So notieren die Franken-Swapzinsen aktuell zwischen 1,5 Prozent und 2 Prozent; Kassenobligationen werfen teils mehr als 1 Prozent ab, und auf Hypotheken wurden nie Negativzinsen erhoben.
Hartnäckig bei Null verharrt haben hingegen in den vergangenen sieben Jahren die Zinsen für die Depositen von Kleinsparern. Nun zeichnet sich ab, dass auch dieser für die Refinanzierung der Banken überlebenswichtige Bereich in Bewegung gerät – und das wahrscheinlich schneller und umfassender, als es den Banken lieb sein kann.
Mobilität wird unterschätzt
Davor warnen Andreas Ita und Claude Moser, Partner der Zürcher Beratungfirma Orbit36 und beide mit illustren Karrieren im Kapital-Management und im Treasury der Grossbank UBS. Kaum jemand kennt die Fallstricke der Fristentransformation und die inneren Räderwerke von Bankbilanzen so gut wie die beiden Experten; bei ihrer Firma klopfen mittlerweile Grossbanken aus aller Welt an. «Das Pricing von Spareinlagen und Depositenkonten ist im gegenwärtigen Umfeld eine Herausforderung», sagt Ita zu finews.ch.
Er wie Moser sind der Meinung, dass die Schweizer Banken die Mobilität der Spargelder unterschätzen und gezwungen sein könnten, innerhalb von Wochen statt Monaten den Sparern einen höheren Zins zu zahlen - mit Folgen für die Zinsmarge. Wer beim «Kampf um Depositen» nicht mitmache, könne gar Probleme mit der Refinanzierung bekommen.
Damit zeichnet sich ab, dass gerade den Bankmanagern und Verwaltungsräten der bis dato erfolgsverwöhnten Inlandbanken hektische Zeiten bevorstehen. Folgende sechs Umwälzungen im Zinsengeschäft könnten ihnen zu schaffen machen.
1. Es schlägt die Stunde der Neobanken
Yuh-Chef Schwab hofft, mit seiner Sparzins-Aktion bis zu 200’000 neue Kunden zu gewinnen. Das klingt nach einer illusorisch hohen Zahl, bedenkt man die sprichwörtliche Trägheit von hiesigen Bankkunden. Moser und Ita mahnen aber, dass die bisherigen Erfahrungen mit der «Stickyness» von Sparern trügerisch sein könnten.
Denn mit der Digitalisierung sei es möglich, innert Minuten ein neues Konto aufzusetzen und ein E-Banking in Gang zu setzen, um Gelder von der bisherigen Bank zum neuen Anbieter zu transferieren. «Bei den Hypotheken wird den Kunden schon lange empfohlen, shoppen zu gehen», gibt Moser zu bedenken. «Das kann gut auch mit Spar- und Depositenkonti geschehen.»
Mit der SNB-Zinserhöhung können Banken, aber auch Neobanken und Fintechs selbst kurzfristige Gelder wieder zu positiven Zinssätzen anlegen. Das erleichtert es den neuen Akteuren, Lockangebote ins Schaufenster zu stellen, zumal sie nicht langfristig gebundene Ausleihungen in der Bilanz refinanzieren müssen. Als erste vermeldete allerdings am Donnerstag die kleine Schweizer WIR Bank die Erhöhung von Zinsen auf Depositen.
2. Die Krux am langen Ende
Die etablierten Banken stehen hingegen vor dem Dilemma, dass ein Grossteil ihrer Aktiven (etwa Hypotheken) zu tiefen Zinssätzen langfristig eingelockt ist. Während auf der Passivseite der Bankbilanz nach Aussagen von Orbit36 rund 95 Prozent der Kundeneinlagen einem Repricing unterliegen, sind es auf der Aktivseite nur 30 Prozent. Dieses Missverhältnis hat sich in den vergangenen Jahren akzentuiert, weil die Hypothekarnehmer die tiefen Zinsen auf möglichst lange Jahren hinaus «anbinden» wollten, während längerfristige Festgelder im Tiefzinsumfeld kaum noch attraktiv erschienen.
Das Resultat: Eine höhere Verzinsung der Spareinlagen muss zu einem Rückgang des Nettozinserfolgs führen.
3. Verdeckte Zinsänderungsrisiken treten in den Vordergrund
Die in den üblichen Zinsrisiko- und Refinanzierungsberichten ausgewiesenen Zinsänderungsrisiken beruhen auf vereinfachten Modell-Annahmen, die das effektive Zinsänderungsrisiko auf der Passivseite der Bilanz im gegenwärtigen Umfeld unterschätzen, sagen die Experten von Orbit36.
Sie erwarten weiter, dass durch den Wettbewerb um Kundeneinlagen Verschiebungen im Produktevolumen ausgelöst werden; die meisten Zinsrisiko-, Refinanzierungs- und Liquiditätsrisiko-Modelle gehen derweil von einer statischen Bilanzannahme aus. Vereinfacht gesagt heisst das, dass die Modelle annehmen, dass die Produktvolumen trotz Zinsänderung unverändert bleiben.
Das ist nicht ungefährlich. Banken-Verwaltungsräte, die sich auf tradierte Modelle abstützen, sind sich möglicherweise nicht bewusst, dass ihr Institut bei einem Anstieg der Leitzinsen deutlich tiefer im Risiko steht, als aus den ihnen zur Verfügung stehenden Berichten ersichtlich ist. Dabei sind die Banken historisch viel stärker gegenüber dem Risiko steigender Zinsen exponiert. So hat sich nach Angaben von Orbit36 der Anteil von Sichteinlagen, die gleichsam über Nacht von den Sparern abgezogen werden können, von 15 Prozent im Jahr 1996 auf 55 Prozent im Jahr 2020 erhöht.
4. Versicherung von Zinsrisiken ist teuer
Die Banken hätten sich gegen das Risiko eines Zinsanstiegs absichern können, was jedoch im Negativzins-Umfeld bisher kostspielig war. Sie hatten deshalb einen starken Anreiz, entweder das Zinsänderungs-Risiko bewusst nicht vollständig abzusichern oder die Durations-Annahme auf der Passivseite zu erhöhen, damit weniger Swap-Geschäfte erforderlich waren. Diese Annahmen könnten sich nun auf der Passivseite als zu optimistisch herausstellen.
5. Möglichkeit zur Quersubvention schwindet
Mit dem Ende der Negativzinsen wird auch der Freibetrag obsolet, den die Banken bei der Nationalbank genossen haben. Bis zu einem gewissen Betrag war es den Geldhäusern demnach gestattet, bei der SNB Gelder zum Null- statt zum Strafzins von -0,75 Prozent anzulegen. Dieses Zugeständnis entwickelte sich in der Negativzins-Ära zu einem guten Geschäft, indem die Institute ihren unbenutzten Freibetrag etwa anderen Banken zur Verfügung stellen konnten. Orbit36 schätzt den ökonomischen Wert der Freigrenze auf jährlich 4 Milliarden Franken.
Neu verzinst die SNB Sichteinlagen innerhalb der Freigrenze bei 0,5 Prozent; darüber hinaus bei der Notenbank parkierte Guthaben werden neu zu 0 verzinst. Doch dieses Zugeständnis, das hat die Nationalbank am Donnerstag klargemacht, sei vorübergehend. Von einer zusätzlichen Subventionierung der Banken wollten die Währungshüter nichts wissen.
Für grössere Kundeneinlagen wurden den Kunden bis anhin verbreitet Negativzinsen belastet, während mit Gebührenerhöhungen für das breite Publikum neue Einkommensquellen geschaffen wurden. Auch diese Alimentierung der Marge gerät nun unter Druck. Wie finews.ch berichtete, hat sich der Preisüberwacher des Bundes die Gebühren-Inflation im Banking vorgeknöpft. Er fordert von den Banken nachdrücklich, Gebührensenkungen vorzunehmen, sobald sich die Zinssituation normalisiert.
6. Den Letzten beissen die Hunde
Da Kundeneinlagen aus Bankensicht die günstigere Alternative zur Geldaufnahme im Interbanken- oder Kapitalmarkt bilden, dürften Spargelder zusätzlich begehrt sein. Dies könnte sich für diejenigen Banken rächen, die ihre Kunden mit Negativzinsen zum Abzug ihrer Gelder bewegt haben oder die Geduld der Kundschaft durch eine zu zögerliche Weitergabe positiver Zinsen strapazieren.
Fazit: Banken, die aus Rücksicht auf ihren Nettozinserfolg und im Vertrauen auf eine starke Kundenloyalität zu lange an sehr geringen Zinsen auf Spar- und Depositenkonten festhalten, könnten mit Mittelabflüssen konfrontiert werden, die nur schwer respektive teuer aus anderen Quellen refinanziert werden können. Dies etwa durch die Ausgabe von langfristigen Obligationen oder Pfandbrief-Anleihen.
Allerdings gelten die Möglichkeiten zur Verbriefung etwa von Hypotheken in der Schweiz als zu wenig entwickelt, um eine echte Alternative in der Refinanzierungen der Banken zu sein.
Den massenhaften Abzug von Spargeldern und Liquiditätsprobleme, also den klassischen «Bank run», sehen die Experten von Orbit36 zwar als Extremszenario mit geringer Wahrscheinlichkeit an. Dennoch erinnern sie daran, dass in den USA im Jahr 2017 eine grössere Bank auf die Zinserhöhung der amerikanischen Notenbank Fed unmittelbar bessere Sparzinsen zahlte – und die übrigen Akteure innerhalb von nur drei Tagen nachzogen. Auch im Zuge der diesjährigen Leitzinserhöhungen seien im US-Markt ähnliche Effekte zu beobachten gewesen.
«Orbit36 rechnet damit, dass es 2023 bei einigen inlandorientierten Banken zu einer negativen Überraschung bezüglich des Nettozinsertrags kommen könnte», hält Ita abschliessend fest.