Angesichts der massiven Interventionen von Staaten und Notenbanken verabschieden sich die Aktienkurse von der wirtschaftlichen Realität. Das bringt die Vermögensverwalter in ein schweres Dilemma.
William C. Dudley hat in vier Jahrzehnten Bankfach so manche Krise gesehen. Doch nun war dem einstigen Goldman-Sachs-Banker und Ex-Präsidenten der Federal Reserve Bank von New York offenbar so unwohl in der Haut, dass er sich aus dem Ruhestand zurückgemeldet hat.
Im Vorfeld zum Zinsentscheid der amerikanischen Notenbank Fed vom vergangenen Mittwoch – der Leitzins bleibt unverändert bei 0,25 Prozent und könnte nun bis 2022 dort verharren – warnte der Ökonom seine Ex-Kollegen vor einem «Moral Hazard». Indem die Währungshüter das Finanzsystem ein ums andere Mal mit viel Geld retten, ermuntern sie die Finanzprofis, immer noch riskantere Wetten einzugehen, wie Dudley sagte.
Crash schon beinahe Geschichte
Tatsächlich gleichen die Börsen derzeit einem gewaltigen Kasino. Dort schiessen die Aktiennotierungen nach oben, als ob mit keinerlei Folgen der Coronakrise für die Realwirtschaft gerechnet werden müsste. Seit dem Tiefpunkt vergangenen März hat etwa der amerikanische Leitindex S&P 500 mehr als 34 Prozent zugelegt. Damit ist die Scharte aus dem Corona-Crash beinahe ausgewetzt.
Die Euphorie an den Börsen birgt noch einen anderen «Hazard», der für die Arbeit von Vermögensverwaltern entscheidend sein könnte. Die Hausse kann nämlich auch als Flucht der Anleger aus Anleihen und hinein in Aktien gelesen werden. Sprich: ins Risiko.
«Damit sie ja nicht Franken kaufen»
Bei der Zürcher Bellerive Privatbank bringt es Investmentchef Thomas Steinemann auf den Punkt. «Die Geldpolitik hat in den letzten Jahren zu einer Verzerrung der Allokation hin zu risikoreichen Anlagen geführt. In der Schweiz werden die Investoren durch die Negativzinsen in zu aggressive Investments getrieben, nur damit sie ja nicht Franken kaufen.»
Wegen der Reaktionen der Geldpolitik auf die Pandemie gilt es als ausgemacht, dass die Zinsen noch tiefer sinken und damit die Renditen von Anleihen stärker ins Minus fallen. Damit ist der Obligationen-Anteil in den Portefeuilles mehr denn je infrage gestellt. Die britische Zeitung «Financial Times» (Artikel bezahlpflichtig) warf jüngst die Frage auf, ob das Standard-Portfolio von 60 Prozent Anleihen und 40 Prozent Aktien in Zeiten von Corona ausgedient habe. Tatsächlich ist es wenig einleuchtend, warum ausgerechnet Wertschriften, die eine Minusrendite abwerfen, der stabilisierende Löwenanteil eines Portefeuilles stellen.
Eine Zäsur
Für die Vermögensverwalter am grössten Offshore-Finanzplatz der Welt – der Schweiz – würde dies eine Zäsur bedeuten. Historisch mehr auf Vermögenserhalt als auf Performance getrimmt, haben Obligationen für die hiesigen Geldmanager eine überragende Bedeutung. Pensionskassen kennen hierzulande immer noch Mindestlimiten an Obligationen, die sie beim Anlegen der Vorsorgevermögen beachten müssen.
Bellerive hingegen investiert für Kunden seit Jahren ausschliesslich in Aktien und setzt zur Stabilisierung der Portefeuilles statt auf Bonds auf Volatilität-Derivate. «Es erstaunt, warum nicht mehr in Volatilität investiert wird, ist sie doch beinahe gratis zu haben und dank dem Auf und Ab der Märkte unerschöpflich wie ein Gezeitenkraftwerk», sagt der Investmentchef.
Schlicht abgehängt
Vorderhand dürften die meisten Akteure noch an der über Jahrzehnte erprobten Allokation festhalten. Denn die sinkenden Zinsen verheissen zwar noch mehr Minusrenditen auf Bonds, aber auch Kursgewinne für die bisherigen Investoren. Und grosse Vermögensverwalter kommen um Obligationen sowieso kaum herum.
Doch das Verharren an Ort hat seinen Preis. Bei der grössten Schweizer Online-Bank Swissquote beschreibt Analystin Ipek Ozkardeskaya eine auswegslose Situation. Wer der Hausse nicht über den Weg traue, werde schlicht abgehängt, resümiert sie. Solange die Illusion an den Börsen anhalte, das trotz Krise alles in bester Ordnung sei und die Notierungen nur steigen könnten, stärke dies die Zuversicht der «Bullen» noch. Die Folge: die Kurse klettern weiter bis zum nächsten Crash – und die Notenbanken schreiten erneut ein. Ex-Notenbanker Dudley sähe sich dann bestätigt.