Singapur scheint bei der Umsetzung von internationalen Standards für den Finanzplatz zurückhaltender vorzugehen als die Schweiz – und damit möglicherweise besser zu fahren.
Der Übervater Singapurs, Lee Kuan Yew, erklärte nach seiner Teilnahme an einem Treffen der Sozialistischen Internationale in der Schweiz 1967, Singapur müsse so werden wie die Schweiz.
Rund 50 Jahre später hat Singapur die Schweiz in vielem eingeholt oder überholt. Noch immer ist die Schweiz zwar für Singapur ein Vorbild, doch inzwischen gibt es auch manches, um das die Schweiz Singapur beneiden könnte. Eine neue Publikation von Avenir Suisse (Online Download) leuchtet das Thema vielfältig aus und setzt dabei auch die beiden Finanzplätze in Relation zueinander.
Ein paar Schuhnummern kleiner
Dabei zeigt sich klar: Gemessen an den Dimensionen ist Singapur – trotz bestem Standortmarketing – nach wie vor einige Schuhnummern kleiner als der Schweizer Finanzplatz. Doch im tropischen Stadtstaat sind die Wachstumsraten enorm – davon kann die Schweiz nur (noch?) träumen.
Zusätzlich interessant ist die Tatsache, dass die Schweiz und Singapur auf dem internationalen Parkett unterschiedliche Strategien in Finanzfragen fahren, wie Rudolf Walser, Senior Consultant bei Avenir Suisse, in einem lesenswerten Beitrag festhält.
Dabei gewinnt der Beobachter klar den Eindruck, dass Singapur die Freiräume bei der Umsetzung neuer internationaler Standards und Regeln besser zu nutzen versteht.
Grössere Zurückhaltung
Konkret stellt Walser (Bild) fest: «Singapur scheint bei der Umsetzung internationaler Standards und Regeln sich grössere Zurückhaltung aufzuerlegen und behutsamer ans Werk zu gehen als die Schweiz. Diese scheint stärker von der Vorstellung getrieben zu sein, durch exaktes und frühes Umsetzen von internationalen Standards (early movers oder early adaptors) lasse sich Goodwill schaffen und liessen sich Freunde gewinnen. Dabei wird in Kauf genommen, dass die Gesamtsicht für die sich auftürmenden strategischen, regulatorischen und juristischen Probleme zu kurz kommt.»
Es verstehe sich von selbst, dass Länder wie die Schweiz und Singapur mit einem wichtigen Finanzplatz sich dem Druck zur Harmonisierung und Systematisierung der Finanzmarktregulierung nicht völlig entziehen könnten. Gleichwohl bleibe immer ein gewisser Freiraum, schreibt Walser weiter.
Freiraum aus drei Gründen
- Erstens seien viele internationale Standards nicht nur sehr vage umschrieben, sondern ihre Interpretation könne sich auch laufend ändern.
- Zweitens würden sich vor allem grosse Länder (USA) und Gruppierungen (EU) die Freiheit nehmen, internationale Regeln (etwa Basel II und III) entweder zu missachten oder eigenwillig umzusetzen.
- Drittens würden sich selbst die G-20-Länder oft nicht an ihre eigenen Empfehlungen (z. B. Schaffung eines einheitlichen Rechnungslegungsstandards) halten.
«Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüssen, dass die Schweiz 2013 den Kontakt mit Singapur und Hongkong aufgenommen hat, um einen vertieften Dialog in Finanzmarktfragen zu führen», kommt Walser zum Schluss.