Der Ausgang der gestrigen Bundestagswahl in Deutschland wird in vielen Kommentaren von Finanzexperten als positiv für das Land und Europa gesehen. Doch bis ein Politikwechsel Wirkung entfaltet, könnte es noch Monate dauern.
Die CDU/CSU hat mit ihrem Kanzlerkandidaten Friedrich Merz die deutsche Bundestagswahl gewonnen. Die einzige realistische Zweierkoalition ohne Beteiligung der AfD kann nur mit der SPD gebildet werden. Eine Koalition mit den Grünen ist schon rein rechnerisch nicht möglich, und eine Dreierkoalition dürfte von keiner dieser Parteien auch nur angestrebt werden. Ein zentrales Thema im Wahlkampf von Merz war neben der Migration die Wirtschaft.
«Das Hauptaugenmerk der Märkte wird nun voraussichtlich darauf gerichtet sein, ob die neue Koalition die verfassungsmässige Schuldenbremse lockert, die regelt, wie viel Schulden die Regierung machen darf», schreibt Blackrock in einem Kommentar.
Doch dafür brauche es Verhandlungen mit den anderen Parteien für eine Verfassungsänderung. Dabei würde wahrscheinlich die SPD Zugeständnisse von Merz bei den Sozialausgaben fordern und die Grünen beim Klimaschutz. Auch die Stimmen der Partei «Die Linke» wären nötig, was «einen hohen politischen Preis verlangen» könnte, wie es weiter heisst.
Stärkung der EU
Blackrock rechnet damit, dass sich unter einem Kanzler Merz die Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich verbessern können und auch die EU-Politik Impulse erhalten dürfte. «Das könnte die EU-Politik in den Bereichen US-Handelszölle, Wettbewerbsfähigkeit, Entwicklung künstlicher Intelligenz und Lücken bei den Verteidigungsausgaben stärken.»
Auch bei Allianz Global Investors wird das Wahlergebnis eher positiv gesehen. Durch das Scheitern der FDP und des BSW an der 5-Prozent-Hürde werde es möglich, dass eine Koalition aus CDU/CSU und SPD eine stabile Mehrheit im Bundestag hätte.
Mittelfristig verbesserte Standortfaktoren
Doch eine Besserung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland dürfte noch eine Weile auf sich warten lassen. «Eine wirtschaftsfreundliche Regierungskonstellation sollte für mittelfristig verbesserte Standortfaktoren sorgen und eine Belebung der Inlandsnachfrage einleiten», kommentiert Christoph Berger, CIO Equity Europe von Allianz GI.
«Eine neue deutsche Regierung mit einem wirtschaftsfreundlichen Kurs könnte dringend benötigte neue Impulse für die angeschlagene deutsche Wirtschaft setzen. Insbesondere wenn diese tatsächlich deregulierend agiert und steuerliche Entlastungen anstrebt. Dies würde auch den deutschen Konsum und damit das deutsche Wirtschaftswachstum wiederbeleben.»
Auch hier wird damit gerechnet, dass die neue Regierung eine stärkere Führungsrolle in der EU und der Welt übernehmen wird. «Nicht zuletzt durch die Präsidentschaft von Donald Trump in den USA braucht Europa neue Antworten auf offene Fragen, wie zum Beispiel die Sicherheitsarchitektur sowie die Positionierung zum wichtigen Handelspartner China», schreibt Berger weiter.
Umfassendes Mandat verfehlt
Deutlich zurückhaltender werten der Experten des Vermögensverwalters DWS das Wahlergebnis. «Die Union hat zwar den ersten Platz erreicht, aber das von ihrem Kanzlerkandidaten Friedrich Merz erhoffte umfassende Mandat zur Reform Deutschlands hat sie verfehlt.»
Positiv wird gewertet, dass ein spürbares Gefühl der Dringlichkeit herrsche, nicht zuletzt aufgrund des internationalen Drucks. «Dies könnte den Weg für eine vergleichsweise reibungslose Koalitionsbildung ebnen, was für die Märkte vielleicht eine bescheidene positive Überraschung wäre.»
Auch hier wird betont, dass es für die neue Regierung wahrscheinlich sehr schwierig werden wird, Verfassungsänderungen durch beide Kammern des Parlaments zu bringen.
Strukturelle Probleme bleiben Herausforderung
Die Notwendigkeit von Kompromissen werde die Möglichkeiten von Merz einschränken, in Bereichen wie Steuersenkungen und Bürokratieabbau spektakuläre Fortschritte zu erreichen. «Die Bewältigung der grossen strukturellen Wirtschaftsprobleme Deutschlands scheint daher nach wie vor eine grosse Herausforderung zu bleiben.»
Eine Reform der Schuldenbremse und das Erreichen einer Mehrheit, um eine nötige Verfassungsänderung vornehmen zu können, steht auch bei Franklin Templeton an zentraler Stelle. «Die Hoffnung ist, dass die Reform der Schuldenbremse Deutschland in die Lage versetzen wird, die notwendigen Ausgaben zu tätigen, um auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückzukehren», schreibt Portfoliomanager Matthias Hoppe.
«Wir bleiben zwar skeptisch, ob die nächste Regierung dazu in der Lage sein wird, aber die aktuelle geopolitische Lage und ein möglicher Handelskonflikt mit den USA könnten genügend Druck auf die Politiker sowohl in Deutschland als auch in der Europäischen Union ausüben, um Reformen anzustossen.» Er warnt jedoch davor, kurz- und mittelfristig allzu optimistisch zu sein.