Die Liquiditätsanforderungen an die Banken schränken den Spielraum für die Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank empfindlich ein, weil sichere und liquide Anlagen in Franken nicht nach Belieben vorhanden sind. Die Grossbank UBS macht Vorschläge, wie dieser Umstand bei der Umsetzung der Geldpolitik berücksichtigt werden kann.
«Warum man mehr über die SNB-Bilanz sprechen muss», lautete der Titel eines Beitrags auf finews.ch vor zwei Monaten. Nun scheint dieser Ruf erhört zu worden sei – allerdings nicht von der primären Adressatin, der Schweizerischen Nationalbank (SNB), sondern vom Chief Investment Office der Grossbank UBS.
Ökonom Maxime Botteron hat für seine anspruchsvolle Analyse die Überschrift «SNB-Bilanz: Was ist die optimale Grösse?» gewählt. Auf diese Grundsatzfrage gibt er jedoch keine Antwort, sondern stellt lediglich (vollkommen zutreffend) fest, dass über die optimale Grösse einer Zentralbankbilanz kein Konsens herrsche (ebensowenig wie über deren richtige Zusammensetzung).
SNB-Bilanzsumme höher als Wertschöpfung der ganzen Schweiz in einem Jahr
Dafür beschäftigt sich Botteron eingehend mit der Frage, wie die Regulierung den Spielraum der SNB einschränkt, ihre Bilanz zu reduzieren, wenn dies geldpolitisch angezeigt wäre. Hintergrund ist die Tatsache, dass die Bilanzsumme mit gut 820 Milliarden Franken nach wie vor die jährliche Wertschöpfung der ganzen Schweizer Volkswirtschaft (Bruttoinlandprodukt) übersteigt und die SNB damit auch international an der Spitze liegt.
Die Bilanz ist seit der Finanzkrise so stark gewachsen, weil die SNB im Kampf gegen den harten Franken immer wieder Devisen kaufte, also Anleihen und Aktien in Fremdwährungen (zuvor betrug die Bilanzsumme rund 100 Milliarden Franken). Der naheliegende Weg, um die Bilanz zu schrumpfen, bestünde darin, die Devisen einfach wieder zu veräussern. Tatsächlich hat die SNB im Zuge ihrer restriktiveren Zinspolitik zur Eindämmung der Inflation von Mitte 2022 bis Ende 2023 Devisen im Gegenwert von 160 Milliarden Franken verkauft.
HQLA zur Erfüllung der Liquiditätsquote LCR
Doch der Spielraum für weitere Devisenverkäufe ist beschränkt, warnt Botteron. Das Problem liegt darin, dass es ohne die SNB zu wenig erstklassige Aktiven in Franken gibt, die sich als High-quality liquid assets (HQLA) qualifizieren.
Als HQLA werden vom Regulator Finanzanlagen bezeichnet, die ausreichend liquid und auch im Fall eines schnellen Verkaufs werthaltig sind. Geschäftsbanken müssen genügend HQLA halten, um in einer Stresssituation mindestens 100 Prozent der geschätzten Nettokapitalabflüsse über die nächsten 30 Tage abzudecken. Wie gut eine Bank diese Anforderung erfüllt, bringt die Liquiditätsquote (Liquidity Coverage Ratio, LCR) zum Ausdruck.
Beschränktes Angebot an erstklassigen liquiden Frankenanleihen
Das Angebot an HQLA in Franken ausserhalb der SNB-Bilanz ist aber beschränkt. Der Marktwert der entsprechenden Wertpapiere (vor allem Anleihen bester Qualität) beträgt 150 Milliarden Franken. Dazu kommt ein Pool weiterer Wertpapiere, die aber nur mit Einschränkungen oder Abschlägen verwendbar sind, was das HQLA-Universum gemäss UBS um 200 Milliarden Franken erweitert.
Auch weitere Vermögenswerte wie Aktien sind für die Erfüllung der LCR zugelassen, allerdings nur begrenzt und mit einem Abschlag von mindestens 50 Prozent. Grossbankökonom Botteron hält denn auch fest, dass diese Kategorie in der Praxis für die Deckung des Liquiditätsbedarfs der Banken keine grosse Rolle spielen dürfte. Auch auf Fremdwährung lautende HQLA (wie deutsche oder US-Staatsanleihen) seien aufgrund der von der Finanzmarktaufsicht Finma eingeforderten Abschläge und anderer Einschränkungen kein richtiger Ersatz für HQLA in Franken.
Wie gross ist der Bedarf der Banken an sicheren und liquiden Anlagen?
Noch schwieriger ist es, die Nachfrage des Bankensystems nach solchen Anlagen zu ermitteln. UBS stützt sich dafür auf Daten der Finma ab, nimmt einige Anpassungen vor und schätzt, dass die Geschäftsbanken in der Schweiz, bei einer angestrebten LCR von 100 respektive 120 Prozent, HQLA zwischen 340 Milliarden und 410 Milliarden Franken benötigen.
Angebot und Nachfrage scheinen also auf den ersten Blick gar nicht so weit auseinanderzuklaffen, doch müssen und wollen natürlich auch andere Investoren, namentlich Versicherungen und Pensionskassen sichere und liquide Wertschriften in Franken halten. Würden Banken den Löwenanteil an HQLA halten, könnte zudem das Paradox auftreten, dass der Handel austrocknet und damit ausgerechnet der Markt für die mit dem Prädikat «im Krisenfall liquid» ausgezeichneten Wertschriften illiquid würde.
SNB als grösste Anbieterin von HQLA in Franken
In der Schweiz herrscht derzeit keine Knappheit an HQLA, weil die SNB in die Bresche springt. Die Sichtguthaben, die Geschäftsbanken bei ihr halten (abzüglich der vor kurzem erhöhten Mindestreserve), und die von ihr im Zuge der Umsetzung der Geldpolitik emittierten Schuldverschreibungen (SNB Bills), mit denen sie Liquidität abschöpft, zählen nämlich ebenfalls zu dieser Top-Anlageform.
Ohne dieses von der SNB geschaffene Angebot wären für die inländischen Banken «wahrscheinlich» schon heute nicht genügend HQLA verfügbar, formuliert die UBS vorsichtig. Ein Mangel an erstklassigen Wertschriften würde dazu führen, dass die Banken um Sichtguthaben und SNB Bills konkurrieren würden, was die Geldmarktsätze in die Höhe triebe und geldpolitisch unerwünscht wäre.
Spielraum für weitere Devisenkäufe ist beschränkt
UBS geht auf Basis dieser Überlegungen und einiger zusätzlicher Annahmen (z.B., dass die Banken nicht mehr als 20 Prozent der HQLA-fähigen Wertschriften halten) davon aus, dass die SNB rund 300 Milliarden Franken des Bestands an HQLA bereitstellen muss. Daraus ergibt sich, dass die SNB ihre Bilanz mit Devisenkäufen (die auf der Passivseite zu einer Verkleinerung der Sichtguthaben führen) um 250 Milliarden Franken (auf noch 570 Milliarden) reduzieren könnte, ohne dass es zu einer Knappheit an HQLA käme.
Doch was wäre, wenn die SNB aus geldpolitischen Gründen die Bilanz noch weiter schrumpfen lassen müsste? Botteron präzisiert gegenüber finews.ch, dass das Konzept der Liquiditätsregulierung (das Teil des als Basel III bezeichneten Pakets von international vereinbarten Bankenvorschriften ist) davon ausgehe, dass immer genügend HQLA vorhanden seien. «In der Schweiz ist dies aber nicht automatisch der Fall. Die SNB muss deshalb auf diesen Aspekt, der für andere Zentralbanken weniger wichtig ist, Rücksicht nehmen und die Umsetzung ihrer Geldpolitik entsprechend anpassen.»
Rückkauf von SNB Bills oder Absicherung des Wechselkursrisikos
Und der UBS-Ökonom macht in seiner Studie auch gleich drei Vorschläge dazu, wie dies geschehen könnte. Die SNB könnte erstens SNB Bills zurückkaufen (was sie in der Vergangenheit auch schon gemacht hat). Damit würde das Angebot an HQLA ingesamt nicht verändert, aber deren Form verändert. Es gäbe weniger SNB Bills (die auch Nichtbanken am Markt kaufen können) und dafür mehr Sichtguthaben (die ausschliesslich Banken zur Verfügung stehen). Per saldo würde damit das nur Banken zugängliche HQLA-Angebot erhöht. Botteron schätzt dieses Potenzial aber als beschränkt ein, sind doch «bloss» SNB Bills über 40 Milliarden Franken im Umlauf.
Zweitens könnte die SNB Derivate einsetzen, statt die Devisen direkt zu verkaufen. Sie würde also etwas tun, was sie bisher immer abgelehnt hat, nämlich das Wechselkursrisiko auf ihren Fremdwährungsanlagen absichern. Es sei aber nicht sicher, ob ein solcher indirekter Verkauf über Derivate geldpolitisch die gleiche Wirkung hätte wie ein direkter Verkauf, schränkt Botteron ein.
Hypothekardarlehen repofähig machen
Drittens schlägt die UBS vor, dass die SNB den Kreis der Vermögenswerte, die sie im Rahmen ihrer Repogeschäfte als Collateral (Sicherheiten) akzeptiert, ausweitet und neu insbesondere Hypothekardarlehen (die heute auch nicht zu den HQLA zählen) einschliesst. So könnte die SNB die Liquidität, die sie bei Devisenverkäufen dem Bankensystem über sinkende Sichtguthaben entzieht, über Repogeschäfte wieder zuführen. Und der Pool an Hypothekardarlehen wäre in der Schweiz mit mehr als 1000 Milliarden Franken auch gross genug, damit der Collateral nicht knapp wird.
Vorschlag zwei und drei würden zwar die Bilanzgrösse der SNB an sich nicht verändern, doch zumindest würden die mit den Devisenanlagen verbundenen Wechselkursrisiken reduziert.
Debatte nicht verfrüht, sondern gerade rechtzeitig
Die Umsetzung der Geldpolitik ist in einem Umfeld mit positiven Zinsen und überschüssiger Liquidität im System schon anspruchsvoll genug, wie finews.ch vor kurzem dargelegt hat. Der Gedanke, dass die Bankenregulierung mit ihren Liquiditätsvorschriften ein relevanter Faktor für die Steuerung der Geldpolitik werden könnte, ist gewöhnungsbedürftig.
Die Signale, welche die SNB aussendet, weisen zurzeit indes nicht darauf hin, dass die Geldpolitik restriktiver wird und damit auch ein Bilanzabbau aktuell werden könnte. Im Gegenteil: Im September könnte die SNB ihren Leitzins erneut senken.
Und doch kommt die Analyse der UBS samt ihren Vorschlägen gerade rechtzeitig, um eine fundierte Debatte darüber in Gang zu bringen, wie gross der Spielraum der SNB in umgekehrter Richtung ist. Sollte dabei auch die optimale Bilanzgrösse selber zum Thema werden, wäre dies für einmal ein durchaus erwünschter Nebeneffekt.