Dass die Nationalbank den Faktor für die Limite der Verzinsung der Sichtguthaben erneut reduziert, hat damit zu tun, dass sie im Frühling das Mindestreserveerfordernis erhöhte. Ein kurzer Streifzug durch die Geschichte der Umsetzung der Geldpolitik, gefolgt von einem Ausblick auf die Perspektiven für das Zinsgeschäft der Banken. 

Man kann wirklich nicht davon sprechen, dass die Mitteilung der Schweizerischen Nationalbank (SNB) vom Montag, den Faktor für die Limite zur Verzinsung von Sichtguthaben mindestreservepflichtiger Kontoinhaber per 1. Oktober von 25 auf 22 zu reduzieren, grosse Wellen geschlagen hätte. Das ist einerseits nachvollziehbar, handelt sich doch um eine technische Anpassung bei der Umsetzung der Geldpolitik. Andererseits könnte die Massnahme doch Auswirkungen auf den Zinserfolg und damit das Kerngeschäft vieler Banken haben.

Welche Bedeutung hat der Faktor, und wie begründet die SNB ihren Beschluss? Zum besseren Verständnis ist eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit hilfreich.

Mindestreservepflicht: Ein Instrument der Geldpolitik

Vor der Finanzkrise 2008/2009 war Liquidität im System grundsätzlich knapp, gute Treasurer hielten nur so viele Barmittel wie nötig, um zahlungsfähig zu bleiben, weil ihnen damit Zinserträge entgingen. Ein Kriterium für die Liquiditätshaltung einer Bank bildete die Mindestreservevorschrift.

Die Mindestreservepflicht diente damals dazu, eine minimale Nachfrage der Banken nach Notenbankgeld sicherzustellen und damit einem geldpolitischen Zweck. Sie besagt, dass Banken ihre kurzfristigen Verbindlichkeiten in Franken (z.B. Kundeneinlagen) zu einem gewissen Prozentsatz mit Mindestreserven hinterlegen müssen. Als Mindestreserven gelten auf Franken lautende Münzen, Banknoten und (in der Praxis die weitaus wichtigste Komponente) Sichtguthaben der Banken bei der SNB.

Von knapper zu überreichlicher Liquidität

Die SNB verzinste damals diese Sichtguthaben nicht, es war also für Banken nicht attraktiv, davon mehr als nötig zu halten. Die SNB versorgte die Banken über den Geldmarkt mit Liquidität, wo sie auch Liquidität untereinander handelten. Wer zu viel Liquidität hatte, stellte diese denen, die davon zu wenig hatten, gegen einen Zins zur Verfügung, was für einen Ausgleich im System sorgte.

Seit der Finanzkrise ist Liquidität aufgrund der Geldpolitik der SNB nicht mehr knapp, sondern überreichlich im System vorhanden. Das liegt daran, dass die SNB ihre Devisenkäufe über neu geschaffene Franken finanziert hat. Wenn die SNB von einer Bank beispielsweise auf Euro lautende Obligationen erwirbt, schreibt sie dieser den entsprechenden Frankenbetrag auf deren Konto gut; die Sichtguthaben insgesamt steigen.

Renaissance des Instruments der Mindestreserve

Aufgrund der Liquiditätsschwemme wird seither das Mindestreserveerfordernis massiv übererfüllt, im Mai dieses Jahres betrug der Erfüllungsgrad der Schweizer Banken insgesamt über 2000 Prozent. Damit hat das Instrument seine ursprüngliche geldpolitische Bedeutung, eine Mindestnachfrage nach Notenbankliquidität sicherzustellen, komplett verloren.

Doch nach der Finanzkrise kam es zu einer unverhofften Renaissance der Mindestreserven. Von 2015 (nach der Aufhebung des Mindestkurses von 1.20 Franken zum Euro) bis 2022 setzte die SNB nämlich einen Negativzins von –0,75 Prozent durch. Das hiess für die Banken, dass sie für ihre hohen Sichtguthaben bezahlen mussten. Von 2015 bis 2021 überwiesen die Banken der SNB Jahr für Jahr einen Betrag, der zwischen gut 1 bis zu etwas mehr als 2 Milliarden Franken schwankte.

Vom Faktor für den Freibetrag...

Die Banken mussten indes nicht ihr ganzes Guthaben verzinsen, vielmehr räumte die SNB ihnen einen Freibetrag ein, um die Belastung des Bankensystems (und damit auch der Bankkunden) in Grenzen zu halten. Dieser Freibetrag errechnete sich aus dem Durchschnitt des (monatlich ausgewiesenen) Mindestreserveerfordernisses über die letzten drei Jahre, der mit einem Faktor multipliziert wurde.

Als die SNB 2022 die Zinswende einleitete, um so die globale Inflationswelle in der Schweiz zu brechen, musste sie die Umsetzung der Geldpolitik erneut anpassen. Die Zinsen waren zwar wie früher wieder positiv, doch im System war weiterhin viel Überschussliquidität vorhanden – die SNB hätte diese nur beseitigen können, indem sie im grossen Stil und rasch Devisenanlagen verkauft und damit ihre Bilanz geschrumpft hätte, was zu einer massiven Frankenaufwertung und Turbulenzen auf dem Finanzmarkt geführt hätte; beides wäre aus geldpolitischer Überlegungen höchst unerwünscht gewesen.

...zum Faktor für die Limite

Kann die überschüssige Liquidität nicht beseitigt werden, muss die SNB sie zumindest binden, damit sie am Geldmarkt ihren (wieder positiven) Leitzins durchsetzen kann. Sie tut dies bis heute, indem sie die Sichtguthaben der Banken verzinst und daneben mit eigenen Schuldverschreibungen (SNB Bills) und Repo-Geschäften (Reverse Repos) Liquidität abschöpft.

Anders als in der Zeit mit knapper Liquidität und des Intermezzos des Negativzinses profitieren heute die Banken von der Umsetzung der Geldpolitik. Die SNB überweist ihnen jährlich Milliardenbeträge als Zins auf den weiterhin gigantischen Sichtguthaben.

Bankensubventionierung birgt Sprengstoff

Diese «Subventionierung der Banken» birgt politischen Sprengstoff, zumal wenn die SNB wie 2023 keine Gewinne an Bund und Kantone ausschütten kann, wodurch diesen Milliarden entgehen. Die SNB zielt deshalb darauf ab, ihre Belastung durch Zinszahlungen soweit als möglich zu minimieren.

Deshalb werden auch nicht die ganzen Sichtguthaben einer Bank zum Leitsatz von zurzeit 1,25 Prozent verzinst, sondern nur der Teil, der unterhalb der sogenannten Limite liegt. Der Teil darüber wird lediglich mit einem Abschlag entgolten, der Zins dafür beträgt aktuell 0,75 Prozent. Und diese Limite errechnet sich nach wie vor aus dem Mindestreserveerfordernis multipliziert mit einem Faktor – nur, dass dieser statt ein Freibetrags- neu ein «Limitenfaktor» ist.

Massnahmen zur Senkung des Zinsaufwands der SNB

Bereits im Oktober 2023 hatte die SNB angekündigt, per Dezember den Faktor von 28 auf 25 zu senken und die Sichtguthaben, die zur Erfüllung der Mindestreservepflicht gehalten werden, nicht mehr zu verzinsen, um so ihre Zinsbelastung zu reduzieren. Und im April dieses Jahres erhöhte sie per Juli das (zinslose) Mindestreserveerfordernis, indem sie die Definition erweiterte und den Reservesatz von 2,5 auf 4 Prozent (und damit auf das im Nationalbankgesetz vorgesehene Maximum) anhob. Sie konstatierte erneut, dies senke ihren Zinsaufwand.

In der aktuellen Mitteilung begründet die SNB die Reduktion allein mit der Sicherstellung «einer weiterhin effektiven Umsetzung der Geldpolitik». Mit der am 1. Juli in Kraft tretenden Erhöhung des Mindestreserveerfordernisses würden die Limiten der Banken über die nächsten drei Jahre zwangsläufig steigen. Die SNB hält deshalb fest: «Die nun beschlossene Faktorsenkung wirkt diesem Anstieg entgegen. Damit stellt die Faktorsenkung eine weiterhin effektive Umsetzung der Geldpolitik sicher und unterstützt einen aktiven Geldmarkt».

Unerwünschten Nebeneffekt auffangen

Die Ökonomen der UBS führen in einem Kommentar («European Economic Comment, SNB: Lowers the tiering threshold – implications») aus, dass die Sichtguthaben der Banken derzeit mit total 435 Milliarden Franken tiefer sind als das Limitentotal von 558 Milliarden. Dabei handle es sich jedoch um eine Gesamtbetrachtung, einzelne Institute könnten sehr wohl ein Sichtguthaben aufweisen, dass ihre individuelle Limite überschreitet. Und eine solche Bank habe einen Anreiz, ihre Liquidität zu besseren Konditionen als zu 0,75 Prozent am Geldmarkt feilzubieten.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die SNB mit der jüngsten Reduktion des Faktors die Aktivität am Geldmarkt (was ihr die Durchsetzung des Leitzinses erleichtert) unterstützt, weil von einer ihrer früheren Massnahme, der Erhöhung der Mindestreserve, ein diesbezüglich konträrer Nebeneffekt ausgeht. Die Nationalbank hat offenbar das Ziel, die Zinskosten zu vermindern, höher gewertet.

Zinsgeschäft für die Banken wird nicht einfacher

Zumindest diesbezüglich dürfte die erneute Senkung des Faktors keine unliebsamen Nebeneffekte entfalten. Sie entlastet die SNB nämlich auf den ersten Blick von Zinskosten. Allerdings verändert die Anpassung allein die Liquiditätssituation am Geldmarkt nicht; es ist durchaus denkbar, dass die SNB bei einem tieferen Faktor mehr Mittel mit SNB Bills und Reverse Repos abschöpfen muss, um den Leitzins durchzusetzen, was wiederum mit Kosten verbunden wäre.

Fazit: Die SNB wird auch künftig danach trachten, ihre Zinsbelastung zu begrenzen. Die Kehrseite der Medaille für die Geschäftsbanken ist, dass sie sich darauf einstellen müssen, dass das bis vor kurzem so lukrative Zinsgeschäft nicht einfacher werden wird.

Geldpolitische Wende hinterlässt bereits deutliche Spuren

2022 hatte die SNB den Leitzins von –0,75 auf 1 Prozent angehoben und im Jahr 2022 weiter auf 1,75 Prozent erhöht. Die steigenden Zinsen vergrösserten zumindest temporär die Zinsmarge, weil die Banken die Konditionen im Aktivgeschäft (Hypotheken und andere Kredite) relativ rasch anpassten, sich bei den Kundeneinlagen aber dafür mehr Zeit liessen (der Fairness halber sei hinzugefügt, dass auch der Negativzins zuvor nicht vollumfänglich auf die Sparkunden überwälzt wurde).

Die geldpolitische Wende, welche die SNB dieses Jahr mit je einer Leitzinssenkung im März und im Juni  hinlegte, hinterlässt in den Halbjahresabschlüssen, welche die Banken in den letzten Wochen bereits vorgelegt haben (und in denen, die noch präsentiert werden) schon deutliche Spuren. Die Zinsmarge hat sich wieder verengt, die Kunden sind zinssensitiver geworden. 

Dazu kommt, dass wie erwähnt durch die Zinssenkungen und die anderen Massnahmen auch die Verzinsung der Sichtguthaben rückläufig ist und zusätzlich die Zeichen auf weitere Zinsschritte nach unten hindeuten, vielleicht schon im September. Für das Zinsgeschäft der Banken haben sich die Perspektiven deutlich eingetrübt. Das heisst nicht, dass sie darben müssen, aber die Zinsbonanza ist definitiv vorüber.