Nach langwierigen Vorabklärungen müssen sich ehemalige Führungskräfte vor Gericht wegen des Zusammenbruchs des Zahlungsdienstleisters Wirecard verantworten. Der Skandal hat den Ruf des deutschen Finanzplatzes arg ramponiert.
Zwei Jahre nach dem Zusammenbruch des Zahlungsdienstleisters, der den grössten Betrugsskandal der Nachkriegszeit in Deutschland ausgelöst und das politische und finanzielle Establishment des Landes erschüttert hat, stehen am Donnerstag ehemalige Wirecard-Führungskräfte vor Gericht.
Der ehemalige österreichische Vorstandsvorsitzende Markus Braun und zwei weitere hochrangige Manager des untergegangenen Blue-Chip-Unternehmens müssen sich unter anderem wegen Betrugs und Marktmanipulation verantworten und könnten im Falle einer Verurteilung für bis zu 15 Jahre ins Gefängnis kommen. Braun bestreitet ein Fehlverhalten und beschuldigt die anderen, ohne sein Wissen ein Schattengeschäft betrieben zu haben.
Mitangeklagter als wichtiger Zeuge
Die Staatsanwaltschaft wirft dem Management von Wirecard vor, riesige Summen an Scheineinnahmen erfunden zu haben, um Investoren und Gläubiger zu täuschen, wie die Nachrichtenagentur «Reuters» meldete. Bis Ende nächsten Jahres sind in dem Fall vorläufig 100 Gerichtstermine angesetzt. Ein Urteil vor dem Münchner Gericht wird frühestens 2024 erwartet.
Die Staatsanwaltschaft wird sich auf die Aussagen von Brauns Mitangeklagtem Oliver Bellenhaus stützen, dem ehemaligen Leiter der Wirecard-Tochtergesellschaft in Dubai, der zu einem wichtigen Zeugen wurde, nachdem er sich 2020 den deutschen Behörden gestellt hatte.
Doch auf der Anklagebank klafft auch nach zwei Jahren Fahndung noch eine unübersehbare Lücke. Jan Marsalek (Bild unten), ehemaliges Vorstandsmitglied und eine Schlüsselfigur in dem Betrugsfall, ist seit Juni 2020 auf der Flucht vor den Strafverfolgungsbehörden und wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. Er gilt als Hauptverdächtiger der Bilanzfälschung.
(Fahndungsfoto Polizeipräsidium München)
Märchenhafter Aufstieg
Die 1999 gegründete Wirecard mit Sitz im Münchner Vorort Aschheim erlebte einen märchenhaften Aufstieg und wurde zum Vorzeigeunternehmen eines neuen Typs deutscher Technologieunternehmen, die es mit den etablierten Titanen der grössten europäischen Volkswirtschaft aufnehmen können.
Wirecard, das mit der Abwicklung von Zahlungen für Pornografie und Online-Glücksspiel begann, stieg auf einen Wert von 28 Milliarden Dollar und verdrängte die Commerzbank im deutschen Leitindex Dax.
Hilferuf an Merkel
Wirecard wies den Verdacht des Fehlverhaltens einiger Investoren und Journalisten zurück und setzte sich erfolgreich bei den deutschen Behörden dafür ein, gegen diejenigen zu ermitteln, die seine Finanzen unter die Lupe genommen hatten. Doch im Juni 2020 musste Wirecard zugeben, dass 1,9 Milliarden Euro in seiner Bilanz fehlten.
Die Regierung der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, die zuvor Wirecards Bestreben nach einer Übernahme in China unterstützt hatte, erwog kurzzeitig eine Rettung des Unternehmens. Doch innerhalb weniger Tage meldete Wirecard als erstes Dax-Mitglied überhaupt Insolvenz an und schuldete den Gläubigern fast 4 Milliarden Dollar.
Auch Schweizer Behörden beteiligt
Der Wirecard-Skandal beschädigte den Ruf des deutschen Finanzplatzes, nachdem der Untersuchungsausschuss des Bundestages viele Fehler und Schwachstellen aufdeckte. Auch international waren Behörden in mehr als zwei Dutzend Ländern involviert, darunter die Schweiz, Österreich, Grossbritannien, Russland, die Philippinen und Singapur.
Nach dem Zusammenbruch von Wirecard traten die Chefs der deutschen Finanzaufsicht BaFin und der deutschen Bilanzaufsichtsbehörde von ihren Ämtern Amt zurück. Merkel und ihr damaliger Finanzminister und jetziger Bundeskanzler Olaf Scholz sahen sich ebenfalls der Kritik ausgesetzt, die Aufsicht über das Unternehmen verpfuscht zu haben. Beide sprachen sich jedoch selber frei von Schuld.
Scholz stärkte die Befugnisse der BaFin und setzte im 2021 eine neue Führung ein. Er kritisierte auch EY, weil der Wirtschaftsprüfer von Wirecard den Betrug nicht aufgedeckt habe. EY hat erklärt, professionell gehandelt zu haben.