Singapur sieht sich zahlreichen Vorurteilen ausgesetzt, die endlich einmal einer Korrektur bedürfen würden, wie finews.ch-Chefredaktor Claude Baumann findet.


Dieser Beitrag von Claude Baumann erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen renommierte Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Dabei äussern sie ihre eigene Meinung. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. finews.first erscheint in Zusammenarbeit mit der Genfer Bank Pictet & Cie. Die Auswahl und Verantwortung der Beiträge liegt jedoch ausschliesslich bei den Herausgebern von finews.ch Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Adriano B. Lucatelli, Peter Kurer, Oliver Berger, Rolf Banz, Dieter Ruloff, Samuel Gerber und Werner Vogt.


Singapur hat ein emotionales Jahr hinter sich. Der Stadtstaat am Äquator musste ausgerechnet 2015, im 50. Jahr seines Bestehens, den Tod seines Gründers Lee Kuan Yew beklagen, der am 23. März 91-jährig verstarb.

Während der einwöchigen Staatstrauer erwies praktisch die ganze Bevölkerung – notabene freiwillig – diesem Mann die letzte Ehre; und nahm dabei stundenlanges Warten in brütender Hitze oder in triefendem Regen in Kauf, um schliesslich am Sarg vorbei zu gehen oder entlang jener Strassen zu stehen, durch die der Trauerzug zog.

Mit der selben Anteilnahme versammelten sich die Singapurer im August erneut, um an den schönsten Plätzen der Stadt den runden Geburtstag dieses jungen Staates zu feiern.

«Singapur reduziert man gern auf Stereotypen»

Nicht wenige Zeitungsleute stellten im Herbst dann fest, dass es ebendiese beiden zentralen Ereignisse von 2015 gewesen seien, die dazu geführt hätten, dass die Regierungspartei, die People’s Action Party (PAP), im September die Wahlen mit einer überwältigenden Mehrheit für sich entschied. Denn schliesslich war es niemand anders als PAP-Pionier Lee Kuan Yew gewesen, der mit seinem politischen Credo und seiner Unnachgiebigkeit Singapur zu dem gemacht hatte, was es heute ist: ein multikultureller Staat mit einem Wohlstandsniveau, das zu den höchsten auf dieser Welt zählt.

In der Optik vieler Menschen im Westen fällt die Wahrnehmung Singapurs ganz anders aus. Sie sprechen paradoxerweise viel häufiger von einer Diktatur, als wenn etwa von Kuba die Rede ist. Zwar attestiert man diesem südostasiatischen Kleinstaat enorme wirtschaftlichen Leistungen, doch reduziert man ihn gleichzeitig und noch so gern auf einige Stereotypen, die vom Kaugummi-Verbot, über die Medien-Zensur, bis hin zur Todesstrafe und dem «Nanny State» reichen, der seine Bürgerinnen und Bürger von der Wiege bis zur Bahre bevormundet.

«Man sollte sich stets bewusst sein, welchen Weg Singapur in 50 Jahren zurückgelegt hat»

Natürlich entspringen derlei Assoziationen nicht der puren Fantasie. Es ist eine tragische Tatsache, dass in den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren Hunderte von regimekritischen Bürgern inhaftiert oder zur Emigration gezwungen wurden. Doch bei aller Kritik an Singapur sollte man sich stets auch bewusst sein, welchen Weg dieses Land in gerade einmal 50 Jahren zurückgelegt hat – nämlich, sich von einem Schwellenland zu einem der reichsten Staaten auf dieser Welt zu entwickeln.

Parallel dazu konnte die in ihrer Bewegungsfreiheit nie eingeschränkte Bevölkerung an einem Wohlstandswachstum partizipieren, das weit nach seinesgleichen sucht – besonders im «Hexenkessel Asiens», wie der amerikanische Publizist Robert D. Kaplan findet. Unbeantwortet bleibt, wie weit es Singapur gebracht hätte, wenn die Regierenden der Opposition freie Hand gelassen hätten.

Ähnlich wie die Schweiz verfügt Singapur über ein verlässliches Rechtssystem, keinerlei Korruption, stabile politische Verhältnisse, eine starke Währung, ein funktionierendes Gesundheits- und Sozialsystem sowie erstklassige Ausbildungsmöglichkeiten. Dass der Aufbau solcher Rahmenbedingungen nicht ohne eine gute Portion an Härte, Disziplin und Beharrlichkeit möglich war, sollte indiskutabel sein, vor allem wenn man den labilen Verhältnissen in Singapurs Nachbarländern Rechnung trägt.

Zu diesen bekannten Privilegien gesellen sich jedoch weitere, weniger offensichtliche Qualitäten hinzu, etwa der funktionierende Staatsapparat, was unter anderem auf eine sehr gute Entlöhnung der Beamten zurückzuführen ist, das friedliche Zusammenleben unterschiedlichster Kulturen auf engstem Raum sowie die Fähigkeit Singapurs, sich zwischen den Weltmächten USA und China eine wichtige Rolle als Scharnier verschafft zu haben.

«Das mag Kritikern ein Dorn im Auge sein»

Gleichzeitig hielt die Regierung jegliche kommunistische Vorstösse vom Land fern, ohne dabei den Anspruch eines starken Staates – der mitunter tatsächlich zur brutalen Repression griff – zu vernachlässigen. Doch damit verbunden war stets auch der Wille, mit der Zeit zu gehen, offen für neue Entwicklungen zu sein, Veränderungen zu antizipieren und Chancen daraus abzuleiten.

Zu verdanken ist das alles Lee Kuan Yew sowie seiner Familie und Entourage, die den Machtapparat bis heute dominieren und Singapur sozusagen wie ein Unternehmen relativ rigide führen – was per se nicht schlecht sein muss, aber durchaus Praktiken zulassen könnte, die nicht unbedingt urdemokratischen Prinzipien gehorchen. Gerade das mag westlichen Kritikern ein Dorn im Auge sein. Doch umgekehrt stellt sich auch die Frage, ob für einen Staat inmitten instabiler Nachbarländer eine gewisse Strenge und Ordnung nicht nachhaltiger ist, als einer Pseudo-Demokratie nachzubeten, wie dies in einigen anderen Ländern Asiens der Fall ist.

Ordnung allein ist zwar noch kein Garant für Entwicklung und Fortschritt, wie der englische Philosoph John Stuart Mill bereits im 19. Jahrhundert festhielt. Doch Ordnung ist früher oder später zwingend, sollen sich Entwicklung und Fortschritt verstetigen. Natürlich entspricht ein solches Ordnungsprinzip nicht unbedingt unserem westlichen Demokratieverständnis, dafür aber dem Gedankengut der Chinesen, die in Singapur immerhin knapp 80 Prozent der Bevölkerung stellen. Ordnung in Familie, Dorf und Politik gilt als oberste Maxime für das Gedeihen eines ganzen Systems.

«Lee Kuan Yew zählte Personen aus vielen ideologischen Lagern zu seinen Freunden»

Entscheidend ist am Ende jedoch folgende Frage: Wie gehen Machthaber mit der Ordnung um? Lee Kuan Yew ist zu attestieren, dass er sich stets als ein «guter Autokrat» erwiesen hat, der seine Prinzipen konsequent vorlebte und so eine Integrität erlangte, die besonders unter Staatsmännern seinesgleichen sucht. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass er Persönlichkeiten aus vielen ideologischen Lagern zu seinen engsten Freunden zählte, seien das nun Helmut Schmidt, Deng Xiaoping, oder Ronald Reagan gewesen.

Lee Kuan Yew ist nie irgendwelchen Exzessen erlegen oder hätte seine Macht für Partikularinteressen missbraucht. Stets stand das Wohl seines Volkes im Vordergrund. Zielte Kritik indessen auf den Mann, also auf ihn, hat er sich wie jeder andere Mensch verteidigt – Kraft seines Naturells auch so «effizient» wie sein ganzes Wirken war.

Die Jubiläumsfeierlichkeiten zum 50. Geburtstags Singapur haben es vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte des Landes zugelassen, eine historisch aussagekräftige Bilanz zu ziehen. Dabei zeigte sich auch, dass es Lee Kuan Yew gelungen ist, sein Vermächtnis in neue Hände zu übergeben. Ein Vermächtnis, das prinzipientreu und verlässlich geblieben ist, sich gleichsam aber auch dem Wandel stellt.

«Mittlerweile liegen sogar staatskritische Bücher in den Buchhandlungen auf»

Singapur ist bis heute ein sicheres und verlässliches Land, das aber auch mit den grossen Herausforderungen unserer Zeit konfrontiert ist: Überalterung, Einwanderung, Terrorismus, Armut, Rassismus und Globalisierung. Im Wissen, was es an Werten und Errungenschaften zu bewahren gilt, scheuen sich die Nachkommen Lee Kuan Yews denn auch nicht davor, einen politischen Kurs zu fahren, der – besonders aus westlicher Warte – bisweilen rigide Züge annimmt, etwa im Strafvollzug. Doch im Gegensatz zu westlichen Gesellschaften äussert sich darin auch der Wille, an bestimmten Werten festzuhalten, anstatt es allen recht zu machen, wie dies etwa in der EU häufig der Fall ist.

Parallel dazu begegnet die Regierung den gesellschaftlichen und medialen Veränderungen offen, weil diese für die Prosperität des Landes bestimmend sind. Vor diesem Hintergrund ist es interessant zu sehen, dass mittlerweile selbst staatskritische Bücher in den Buchhandlungen aufliegen. Noch besser zeigt sich diese Öffnung im Umgang mit den virtuellen Medien, die in einem modernen Staat wie Singapur omnipräsent sind. Sie tragen zu einer Meinungsvielfalt im Stadtstaat Singapur bei, so dass die viel zitierte Zensur höchstens noch in den Köpfen unbelehrbarer Kritiker weiterlebt.

«Unternehmertum ist in Singapur kein Fremdwort mehr, wie es die Fintech-Szene beweist»

Bei den politischen Wahlen von 2011 hatten überraschend viele Bewohner Singapurs ihre Stimme der Opposition gegeben, weil es ihnen offenbar wichtig schien, dass deren Positionen zum Ausdruck kommen. Im vergangenen Jahr wiederholte sich dieses Phänomen nicht. Zum einen, weil der Opposition die Argumente für eine substanzielle Kritik an dem 50-jährigen Erfolgsmodell fehlte, und zum andern, weil die Menschen kontroverse Meinungen und Stimmen heute in den sozialen Medien finden und diskutieren können.

Das hat zu einer spürbaren Entspannung und Emanzipation in der Bevölkerung geführt, der man lange genug unterstellt hat, sich mit der staatlichen Bevormundung des «Nanny State» arrangiert zu haben. Doch selbst Unternehmertum ist heute in Singapur kein Fremdwort mehr, wie es die Entwicklung beispielsweise in der Fintech-Szene zeigt, die weltweit zu den führenden gehört.

Dass Lee Hsien Loong, der heutige Premierminister und Sohn Lee Kuan Yews, selber ein eifriger Social-Media-User ist, unterstreicht zusätzlich, wie sich Singapur dem Wandel der Zeit verschrieben hat und die Werkzeuge der freien Meinungsäusserung selber einsetzt.


Claude Baumann ist Mitgründer und Chefredaktor von finews.ch. Er ist Autor mehrerer Bücher über die Finanzbranche, zuletzt erschien «Robert Holzach – Ein Bankier und seine Zeit» im Verlag Neue Zürcher Zeitung.