Europa wird zunehmend zum Experimentierfeld für digitale Konzepte zwischen Fintechs und mächtigen US-Banken. Schweizer Finanzinstitute mit ihrer langen Erfahrung in der Vermögensverwaltung laufen Gefahr, wichtige Entwicklungen zu verpassen.
Schweizer Banken sollten diese jüngste Entwicklung genau beobachten: Der mächtige US-Finanzkonzern J.P. Morgan Chase hat es nun auch in Europa auf die Klein- und Kleinstkunden abgesehen. Er ist nicht nur daran, eine eigene Smartphone-Bank in Grossbritannien zu gründen, er hat soeben den britischen Robo-Advisor Nutmeg gekauft – für einen nicht genannten Betrag.
Damit folgt J.P. Morgan im Ansatz der Strategie des Wall-Street-Rivalen Goldman Sachs, der sich ebenfalls im digitalen Retail-Bereich in Europa ausbreitet. So hat das Geldhaus bereits 2018 die Digitalbank Marcus in Grossbritannien gestartet und will Anfang 2022 einen Robo-Advisor nachschieben.
Marktanteile aus allen Ligen
Diese Pläne sind strategisch bemerkenswert, da sich die US-Finanzgiganten bislang vor allem im Investmentbanking, also im Geschäft mit institutionellen Kunden, sowie in der Vermögensverwaltung für sehr betuchte Kundinnen und Kunden mit mindestens 50 Millionen Dollar tummelten. Neuerdings wollen sie aber auch in unteren Ligen Marktanteile gewinnen, wie es das jüngste Beispiel mit Nutmeg sehr gut illustriert.
Mit anderen Worten: Goldman Sachs oder J.P. Morgan gehen von einem institutionellen Ansatz aus, den sie digitalisiert einer neuen Klientel mit überschaubaren Vermögenswerten anbieten. Im Jargon spricht man dabei von Affluent-Kunden, die höchstens ein paar Millionen Franken besitzen – zumeist aber wesentlich weniger. Mit einem digitalen Ansatz lässt sich jedoch diese Kundengruppe sehr individuell und profitabel bedienen.
Neue Ertragsquellen
Welche Dimensionen dieses Geschäft mittelfristig erhalten könnte, dokumentieren ein paar Zahlen: Nutmeg verfügt aktuell über rund 140'000 Kunden und verwaltet Vermögenswert von rund 3,5 Milliarden Pfund (umgerechnet knapp 4,5 Milliarden Franken) in Grossbritannien. Tendenz steigend.
Der Umstand allerdings, dass das Jungunternehmen noch Verluste schreibt, zeigt gleichzeitig, wo die Schwächen solcher Strategien liegen: im Vertrieb respektive in den Möglichkeiten, zusätzliche Klientel anzusprechen. Doch genau in diese Bresche kann J.P. Morgan mit seinem dichten Beziehungs- und Geschäftsnetzwerk springen und erschliesst sich neue Ertragsquellen.
Smarte Banken
Ein smartes Angebot à la Nutmeg kombiniert mit der Power eines Finanzriesen wie J.P. Morgan ist vermutlich die langfristig einzige Möglichkeit, der Konkurrenz nicht das ganze Feld zu überlassen; besonders in Grossbritannien, einem sehr hart umkämpften Markt, was das Digital-Banking angeht. Britische Anbieter verfügen bereits je über mehrere Millionen Kundinnen und Kunden. Selbst der Newcomer Marcus von Goldman Sachs kratzt nach drei Jahren im Geschäft mittlerweile an der Ein-Millionen-Marke.
In Ergänzung zum Nutmeg-Engagement will J.P. Morgan auch noch selber eine Smartphone-Bank namens Chase in Grossbritannien lancieren. Ein solches Angebot ist in den USA bereits im Einsatz.
Übungsanlage für weitere Expansion
Eine entsprechende App bietet ein «neues Kundenerlebnis» mit Rund-um-die-Uhr-Service. Die Zentrale der britischen Tochterfirma befindet sich im Londoner Finanzviertel Canary Wharf, während das Call-Center aus dem schottischen Edinburgh operiert.
Das ist sozusagen die Übungsanlage für die weitere Expansion – nach Europa sowie nach Lateinamerika, wie Sanoke Viswanathan, dem Chef des internationalen Privatkundengeschäfts, schon verschiedentlich erklärt hat.
Anfordernisse von morgen
Vor diesem Hintergrund ist vermutlich erstmals ein gänzlich neuer Ansatz zu beobachten, wie Vermögensverwaltung in Zukunft funktionieren könnte – aus der Synthese kleinster, aber innovativer Fintechs und stark institutionalisierten Finanzhäusern. Das Swiss-Banking-Modell scheint vor diesem Hintergrund noch zu wenig auf die Anforderungen von morgen abgestimmt zu sein.