Wo das Herz des Elsass schlägt

Der Schweizer Silvio Denz hat nordwestlich von Strassburg ein ebenso besonderes wie luxuriöses Refugium aus hochstehendem Kunsthandwerk und Gourmet-Tourismus geschaffen. finews.ch hat seine «Villa René Lalique» besucht.

Die Weinbergschnecke hat ihren angestammten Platz in der elsässischen Küche. Und so darf man als Gast der «Villa René Lalique» in Wingen-sur-Moder, Elsass, gespannt sein, welche Form diese Zutat in den Händen von Spitzenkoch Paul Stradner (zwei Michelin-Sterne) annimmt.

Die «Escargots» kommen verkleidet daher, gemeinsam mit Petersilie als Füllung einer Kartoffelnudel, angerichtet auf einem Meerrettichschaum. Erdig-nussig, wie es dem Schnecken-Liebhaber gefällt, dies aber gut dosiert und ausbalanciert durch die schöne Schärfe des Meerrettichs.

Am Anfang war das Kristallglas

Paul Stradner, aufgewachsen auf einem Bauernhof in der Steiermark, gibt dem französischen Protein-Klassiker, der bedauerlicherweise nicht allen Zeitgenossen aus unseren Gefilden gleichermassen zugänglich ist, eine neue Qualität.

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Schnecken in der Interpretation von Zweisterne-Koch Paul Stradner. (Bild: Karine Faby, zVg)

Dass dieses Gericht hier aufgetischt wird, liegt auch an Silvio Denz. Der Schweizer ist Eigentümer der «Villa René Lalique». Den Grundstein seiner Lalique-Gruppe bildete bereits 2008 der Erwerb der renommierten Kristallmanufaktur Lalique inklusive ihrer Fabrik in Wingen-sur-Moder. Das Gourmet-Restaurant «Villa René Lalique», das auch ein kleines Boutiquehotel mit Lalique-Mobiliar beherbergt, darf man als Spin-off dieser Akquisition betrachten. Es handelt sich um das frühere Wohnhaus von René Lalique (1860–1945), das er während seiner Werksbesuche bewohnte.

Wiederbelebte Traditionen

Die in Kartoffelteig gehüllten Weinbergschnecken des österreichischen Spitzenkochs reflektieren ziemlich gut die Essenz der Unternehmungen von Silvio Denz, zu denen unter anderen die Destillerie «Glenturret» in Schottland, das Hotel und Sauternes-Weingut «Château Lafaurie-Peyraguey» und seit neuestem das in Renovation befindliche Hotel «Villa Florhof» in Zürich gehören.

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Eine Lalique-Vase erhält in der Manufaktur ihr Gold-Finish. (Bild: zVg)

Denz ist ein Meister darin, die kulturelle Wertigkeit von Traditionen wiederzubeleben und zeitgenössisch auf höchster Qualitätsstufe zu interpretieren. Mit starker regionaler Verankerung zwar, aber eben auch mit genügend spielerischer Frechheit, um ein französisches Nationalheiligtum in eine österreichische Kartoffelnudel zu packen und dies dann mit Meerrettich zu reichen.

Schneckenfarm in der Region

Die Essenz des Tellers bleibt am Gaumen elsässisch. Sehr elsässisch sogar: Die Schnecken werden im 20 Autominuten entfernten Ettendorf von Antoinette Christ, Eigentümerin der Schneckenfarm «Mille et Une Coquilles», gezüchtet.

Das ist die Philosophie des Eigentümers, auf die sich die kulinarische Sprache seines Chefkochs reimt, dem Denz alle Freiheiten lässt. Ähnlich wie die Kristallobjekte von Lalique, allgegenwärtig im Mobiliar und natürlich in den Trinkgefässen in der «Villa René Lalique», eine Synthese aus handwerklicher Tradition und Modernität sind, spielt Stradner virtuos mit den Aromen des Elsass und bereichert mit ihnen seine Haute Cuisine.

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Synthese aus handwerklicher Tradition und Modernität: Chefkoch Stradner. (Bild: Hirmance Production, zVg)

Name mit einzigartigem Klang

Bevor wir näher auf die Teller-Kreationen eingehen, wollen wir etwas beim Glasmacher René Lalique und Wingen-sur-Moder verweilen. Im Musée René Lalique kann man die Wurzeln des Namens ergründen und versteht, warum die Kristallwaren von Lalique auf der ganzen Welt einen einzigartigen Klang haben.

Lalique wurde 1888 vom Juwelier René Lalique in Paris gegründet, der in frühen Jahren für renommierte Häuser wie Cartier arbeitete; 15 Jahre später eröffnete er an der noblen Place Vendôme sein erstes Ladenlokal. Zu seinen wichtigsten Inspirationsquellen (und Kundinnen) gehörte die Schauspielerin Sarah Bernhardt, ein Weltstar der Jahrhundertwende. Ursprünglich als Schmuckdesigner bekannt, revolutionierte Lalique die Glasverarbeitung im Art Nouveau- und später im Art Déco-Stil, wobei er raffinierte, oft von der Natur inspirierte Motive einsetzte.

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Musée René Lalique in Wingen sur Moder. (Bild: zVg)

Begehrte Sammlerobjekte

Bald erweiterte er sein Tätigkeitsfeld in Richtung Parfumflakons, Trinkgläser, Vasen und Kunstwerke. Die immer noch operable Manufaktur im Elsass rief René Lalique in den Zwischenkriegsjahren, nämlich 1922, ins Leben. Dabei konnte er sich auf eine etablierte Kultur des Glasbläserhandwerks im Elsass abstützen. Nach seinem Tod 1945 führte sein Sohn Marc Lalique das Unternehmen weiter und brachte die Marke mit Bleikristall auf ein neues Niveau.

Glas- und Kristall-Artefakte von Lalique sind unter Kennern und Sammlern begehrt.

Neue Blicke auf das Elsass

Ein Gang durch das «Musée René Lalique» ist eine faszinierende Zeitreise in Sachen Kunsthandwerk und Design. Und der Besuch des Restaurants «Villa René Lalique» von Chefkoch Paul Stradner, wo die Getränke natürlich in Lalique-Gläsern gereicht werden, ist eine sinnliche Erfahrung, die ganz neue Blicke auf das Elsass auftut.

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Das Restaurant «Villa René Lalique». (Bild: Reto Guntli, zVg)

Besonders beeindruckend ist es, mit welcher Stilsicherheit Stradner einfache, teilweise durchaus etwas grobe Zutaten aus der Region mit schlafwandlerischer Sicherheit in seine hochstehende Küche einstreut. Über die Schnecken haben wir bereits gesprochen.

Karpfen aus Sparsbach

Weiter kommt sein Onsen-Ei in Begleitung elsässischer Raps-Samen auf den Teller, die eine an Malz erinnernde Tiefe beisteuern. Besonders gewagt ist später die Kombination aus Karpfen aus Sparsbach – ein als unelegant geltender, in der Region aber früher gern verspiesener Fisch – mit schwarzem Trüffel, Sellerie und Nussbutterschaum.

Der Blaue Hummer aus der Bretagne erhält eine Schaumkrone aus der im Elsass endemischen Fichte, was das Krustentier auf höchst interessante Weise am Gaumen säuerlich erdet. Überhaupt, die Säure: Stradner erweist sich bei den Vorspeisen als grosser Meister des Spiels mit dieser appetitanregenden Geschmacksrichtung.

Pralinenhaft zerschmelzendes Artischockenherz

Nebst den Schnecken ein grosser Klassiker von Paul Stradner ist der Glattbutt, wie der Steinbutt ein Meerestier aus der Familie der Plattfische. In der festen Textur des Fleisches und im edlen Geschmack ist der Glattbutt seinem berühmten Verwandten sehr ähnlich. In der Präsentation von Stradner gesellt sich zu dem Fisch ein einzigartig pralinenhaft zerfliessendes Artischockenherz. Es ist der einzige Gang des Abends, der – keine Regel ohne Ausnahme – keine regionalen Akzente setzt, aber ebenso intensiv im Gedächtnis haften bleibt.

Umso stärker in elsässischen Traditionen verhaftet ist der Fleischgang, welcher der Jahreszeit geschuldet (wir haben das Haus Ende 2024 besucht) eine Hommage an die Jagd darstellt.

Rehrücken mit Gerstenkaffee

Den rosa gebratenen Rehrücken, geschossen von einem Jäger aus dem nahegelegenen Ingwiller, veredelt eine Kruste aus gepuffter Gerste an einer Wildsauce, die mit gerösteter Gerste angereichert wurde – sogenannter Gerstenkaffee, der einst in Kriegszeiten als Ersatz für echten Kaffee diente. Diesen bezieht Stradner von einer elsässischen Rösterei. Die Mitinhaberin war früher für Nespresso tätig, bis sie sich mit ihrem Ehemann im Elsass selbständig gemacht hat.

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Rehrücken mit gepuffter Gerste, Sauce mit Gerstenkaffee. (Bild: Hirmance Production, zVg)

Natürlich darf auch eine Auswahl perfekt gereifter Käse von weltweit bekannten Maître Bernard Antony aus dem elsässischen Vieux-Ferrette nicht fehlen, die sich der Gast vom grosszügig bestückten Wagen direkt am Tisch zusammenstellen kann.

Weinkeller von Mario Botta

Eine besondere Erwähnung verdient das Brot, das Paul Stradner speziell zur Begleitung des Käses komponiert hat: Es enthält etwas Buchweizen, was ihm eine würzige Note gibt. Etwas Ahornsirup, der im Teig und als Glasur verwendet wird, sorgt für eine diskrete, aber doch vollmundige Süsse.

Zu einem gastronomischen Abend dieser Hubraumklasse gehört natürlich auch eine passende Weinkarte. Die Schätze dieser Auswahl lagern in einem architektonischen Juwel: dem von Mario Botta entworfenen Weinkeller. Dieser Keller nicht nur ein funktionaler Lagerraum, sondern eine futuristische, fast etwas sakral anmutende Hommage an den Wein.

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Sommelier Romain Iltis. (Bild: Karine Faby, zVg)

Seltene und alte Weine

Zwischen dem Boden aus schwarzem Granit und der Decke aus weissem Ahorn tut sich ein grosszügiger Raum auf, in dessen Zentrum ein mächtiger Tisch zu privaten Dîners oder Veranstaltungen einlädt. Darum herum, also entlang der Wände, ziehen sich die mit Glas abgetrennten Klimazonen, aufgeteilt nach Rotwein und nach Weisswein. Die Flaschen selbst sind in kunstvollen Möbeln drapiert, deren Schubladen aus ausrangierten Bordeaux-Holzkisten bestehen.

In dem Keller befindet sich eine Auswahl, die ihresgleichen sucht. Die Anfangsausstattung steuerte vor zehn Jahren Silvio Denz aus der Privatsammlung bei, die bereits sein Vater aufzubauen begonnen hatte. Das bedeutet, dass man hier auch äusserst seltene und alte Weine findet.

13'000 Flaschen

Chef-Sommelier Romain Iltis, der einmal mit dem Titel «Meilleur ouvrier de France» (bester Handwerker Frankreichs) ausgezeichnet wurde und einmal als «Meilleur sommelier de France», bewegt sich routiniert durch sein Grossreich. Seit dem ersten Tag der «Villa René Lalique» ist er mit von der Partie. Der Elsässer sprüht vor Begeisterung, wenn er die Vorzüge seiner in die Weinkarte gegossenen Sammlung hervorhebt.

«13’000 Flaschen haben wir hier», erklärt er. Zusätzlich verfüge man noch über einen Reifungskeller im Dorf. Den Schwerpunkt bilden Weine aus Bordeaux (der Älteste ist ein 1928er Château Mouton-Rothschild) und aus dem Elsass.

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Weinkeller der «Villa René Lalique». (Bild: Adeline Wagner, zVg)

Einkauf nahe am Produzenten

In seiner Funktion sei es besonders wichtig, sich gekonnt durch das Dickicht der komplexen Bordeaux-Lieferkette zu bewegen, in dieser möglichst nahe am Produzenten einzukaufen und selbst reifen zu lassen. «So können wir unseren Gästen viele ältere Bordeaux zu Preisen anbieten, die günstiger sind als im Sekundärmarkt», so der Sommelier.

Der Abend neigt sich dem Ende zu: Beim Dessert hat die Quitte, eine eher raue Gesellin unter den Früchten, ihren Auftritt. Begleitet wird sie von zartem Blütenhonig und Yuzu, einer aus Japan stammenden Zitrusfrucht, die gekonnt die Schwere und süsse Behäbigkeit der Quitte konterkariert.

Ein Glas Sauternes zum Schluss

Und dann hat der Sauternes von Silvio Denz’ «Château Lafaurie-Peyraguey» seinen grossen Auftritt.

Derart gesättigt, bleibt die Frage: Lohnt sich die Fahrt ins Elsass zur «Villa René Lalique» und Chefkoch Paul Stradner? Streng genommen empfiehlt der Guide Michelin ja bei zwei Sternen nur «einen Umweg», und erst bei drei Sternen «eine Reise».

Eine Reise wert

Derart pauschale Kategorien sind im vorliegenden Fall nicht zweckdienlich. Als Bestandteil der Lalique-Welt ist die «Villa René Lalique» mit ihrer Einbettung in die kulturhistorische Geschichte des Glasbläser-Kunsthandwerks ohnehin eine Reise wert.

Und was die Küche anbelangt: Wer auf der Suche nach leichter Mittelmeerküche ist, wird sich in Paul Stradners kunstvoll gewobenen Kontrasten aus elsässischer Verwurzelung, steirischer Klarheit und Haute Cuisine vielleicht neu orientieren müssen.

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Mit Lalique-Möbeln eingerichtete Lounge. (Bild: Gilles Pernet, zVg)

Kulturelle Offenheit erwünscht

Dem Genuss dieses Erlebnisses ist auf jeden Fall die Bereitschaft zuträglich, sich auf die einzigartigen, in Teilen etwas schroffen Gegebenheiten von Land und Leuten einzulassen. Das Herz des Elsass ist nicht einfach zu erobern. Aber umso lohnender ist es.

Zum Abschied legt Paul Stradner uns die Visitenkarte von Antoinette Christ, der Schnecken-Züchterin, in die Hand. Die Geschichte ihrer «Escargots»? Ein Geheimnis, das es noch zu entdecken gilt.