Als Zentralbanker sollte man nicht auf die Inflation reagieren, sondern auf die Faktoren, die die Teuerung antreiben», erklärt Stefan Gerlach, Chefökonom der Schweizer Privatbank EFG International, im Gespräch mit finews.ch.
Indem sie am vergangenen 22. September den Leitzins um 75 Basispunkte erhöht hat, bewegt sich die Schweizerische Nationalbank (SNB) im Gleichschritt mit der Entwicklung in anderen Ländern. Dort sind die Notenbanken allerdings mit der Bekämpfung einer sehr hartnäckigen Inflation beschäftigt.
Die Europäische Zentralbank (EZB), die amerikanische Federal Reserve (Fed) sowie die Bank of England (BoE) zogen die Zinsschraube im Oktober in gleichem Masse an. Doch seither wird debattiert, ob sie damit zu schnell und zu weit gegangen sind.
Intime Kenntnisse
finews.ch hat darüber mit Stefan Gerlach gesprochen, Chefökonomen der Schweizer Privatbank EFG International. In seiner vormaligen Funktion als stellvertretender Gouverneur der Irischen Zentralbank zwischen 2011 und 2015 nahm er an den Sitzungen des EZB-Rats teil und verfügt damit über intime Kenntnisse der Arbeitsweise von Währungshütern.
«Als Zentralbanker sollte man nicht auf die Inflation reagieren, sondern auf die Faktoren, die die Inflation antreiben», betont Gerlach. Es sei wichtiger zu erkennen welche Faktoren das seien, als sich über die Art und Weise, wie die Inflation gemessen werde, Gedanken zu machen.
Kostendruck und Nachfragesog
Derzeit treiben unterschiedliche Faktoren die Teuerung in den USA und in Europa an. Bei der Betrachtung der Entwicklungen laufe es auf die klassische Sichtweise zwischen Kosten- und Nachfrageinflation hinaus, erklärt Gerlach. In den USA handle es sich um eine nachfragegetriebene Inflation, die zum Teil auf das Konjunkturprogramm der Regierung von Joe Biden zurückzuführen sei.
In Europa hingegen werde die Inflation unter anderem durch angebotsbedingte Faktoren wie die Energiepreise und den Krieg in der Ukraine in die Höhe getrieben.
Für Gerlach gibt es noch einen weiteren wichtigen Faktor, den die Zentralbanken bei der Entwicklung ihrer Inflationsbekämpfung-Strategien berücksichtigen müssen. «Die Situation ist von Land zu Land sehr verschiedenen, und es kommt stark darauf an, wie der Immobilienmarkt funktioniert.»
Wohnungsmarkt berücksichtigen
So gebe es deutliche Unterschiede zwischen den Immobilienmärkten der grossen angelsächsischen Länder und denen der Schweiz oder Deutschlands. In Deutschland seien Hypothekarkredite weit verbreitet, während in der Schweiz das Mieten klar überwiege. Darüber hinaus sei die Volatilität auf den Wohnungsmärkten in der Schweiz, wo rund 30 Prozent der Preise reguliert sind, weitaus geringer.
Die Auswirkungen der höheren Zinssätze auf den Wohnungsmarkt müssen sich erst noch zeigen. «Es dauert eine Weile, bis sich Zinserhöhungen voll bemerkbar machen. Die Hauspreise sind noch nicht ins Rutschen gekommen. Aber ich befürchte, dass dies im Frühjahr in einigen Ländern sehr starke Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt haben wird», so Gerlach.
Druck auf die Lieferketten
Eine weitere Triebfeder der Inflation waren die Unterbrechungen in den globalen Lieferketten, die seiner Meinung nach jetzt nachgelassen haben und zur Verringerung von Engpässen führen werden. «Es gibt Anzeichen dafür, dass einige der Probleme in den Lieferketten gelöst werden», sagt der EFG-Experte.
Ein Beweis dafür ist der Global Supply Chain Pressure Index (GSCPI) der New Yorker Federal Reserve. Obwohl der GSCPI im Oktober moderat anstieg, war er zuvor fünf Monate in Folge rückläufig. «Die Entwicklungen im bisherigen Jahresverlauf deuten darauf hin, dass der globale Druck in den Lieferketten wieder auf ein historisches Niveau zurückgeht», hiess es in einer Einschätzung der New Yorker Fed.
Gerlach erwartet, dass die EZB aufgrund dieses Szenarios weniger harte Massnahmen ergreifen werde als die Fed. Insgesamt könnte sich die Zeit der massiven Zinserhöhungen verlangsamen und vielleicht sogar bald ganz enden. Natürlich wird dies von Land zu Land verschieden sein.
Eine Frage der Geschwindigkeit
Bleibt die Frage, ob die Zentralbanken die Zinsen zu schnell angehoben haben. Einerseits könnte man argumentieren, dass ein früherer Beginn einer moderaten Serie von Zinserhöhungen einen Teil des derzeitigen Inflationsdrucks vermieden hätte. Sicherlich war der Krieg in der Ukraine ein grosser Schock. Dennoch: «Rückblickend hätte man die Geldpolitik früher straffen müssen. Das ist klar», sagt Gerlach.
Jetzt scheint es, als würden die Zentralbanken diese verpasste Gelegenheit überkompensieren. Seit Beginn ihrer Serie von Zinserhöhungen hat die Fed ihren Leitzins um 375 Basispunkte angehoben. «375 Basispunkte seitens der Fed wirken ein bisschen so, als wäre man in seinem Ferrari mit 250 Stundenkilometern unterwegs. Bei dieser Geschwindigkeit kann eine Menge passieren, selbst wenn die ersten Minuten der Fahrt gut verlaufen sind.»
Blick auf Januar 2023
Nun bleibt abzuwarten, wann und ob die Serie von Zinserhöhungen verschiedener Zentralbanken die Inflation bremsen und was das für die kommenden Sitzungen bedeutet. Zumindest lässt ein Teil des Drucks auf die Lieferketten nach, und es gibt auch Einschätzungen, die eine Verlangsamung auf den Immobilienmärkten vorhersagen.
«Ich denke, das Schlimmste liegt hinter uns, und dann werden wir sehen, ob einige Zentralbanken zu stark nachgezogen haben», sagte Gerlach und fügte hinzu, dass «die Inflation im Allgemeinen ab Januar, vielleicht schon im Dezember, zurückgehen wird. In einigen Ländern könnte sie ziemlich stark zurückgehen», sagt er voraus.
«Das Risiko einer Rezession im nächsten Jahr ist wegen der massiven Zinserhöhungen in den USA sehr hoch. Die Zinserhöhungen sind noch nicht in der Wirtschaft angekommen.»
Schon bald den Fuss vom Gas?
Jüngst hat Fed-Chef Jerome Powell zusammen mit anderen Beamten angedeutet, dass sie es vorziehen würden, das Tempo der Zinserhöhungen zu verringern. Der jüngste Bericht über den Verbraucherpreisindex könnte sie in dieser Absicht bestärken. Die Verbraucherpreise stiegen im vergangenen Oktober um 7,7 Prozent, was immer noch vergleichsweise hoch ist, sich aber von 8,2 Prozent im September und dem Vier-Jahrzehnte-Hoch im Juni von 9,1 Prozent verlangsamt hat.
«Ich denke, dass wir von nun an einen langsameren Anstieg sehen werden. Es würde mich nicht überraschen, wenn die Fed im Dezember nur um 50 Basispunkte oder sogar nur um 25 Basispunkte anheben würde, falls die Inflation nachlässt.» Es sieht so aus, als ob die Fed schon bald den Fuss vom Gas nehmen könnte.
Stefan Gerlach ist Chefökonom bei der EFG Bank in Zürich. Er war von 2011 bis 2015 stellvertretender Gouverneur der Irischen Zentralbank und nahm an den Sitzungen des EZB-Rats teil. Davor war er Professor für monetäre Ökonomie und geschäftsführender Direktor des Instituts für Währungs- und Finanzstabilität an der Goethe-Universität in Frankfurt. Ausserdem war er externes Mitglied des geldpolitischen Ausschusses der Bank von Mauritius und Mitglied des monetären Expertengremiums des Ausschusses für Wirtschaft und Währung des Europäischen Parlaments. Von 2005 bis 2007 wirkte er als Sekretär des Ausschusses für das globale Finanzsystem unter dem Vorsitz des stellvertretenden Vorsitzenden des Federal Reserve Board, Don Kohn, bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Von 2001 bis 2004 war er geschäftsführender Direktor und Chefökonom der Hongkonger Währungsbehörde sowie Direktor des Hong Kong Institute for Monetary Research.