«In vielen Jahren werden wir vielleicht sagen, Brexit sei die verpasste Chance gewesen, die EU zu reformieren», schreibt Peter Kurer in seinem neusten Essay für finews.first.
Dieser Beitrag erscheint in der Rubrik finews.first. Darin nehmen renommierte Autorinnen und Autoren wöchentlich Stellung zu Wirtschafts- und Finanzthemen. Dabei äussern sie ihre eigene Meinung. Die Texte erscheinen auf Deutsch und Englisch. finews.first läuft in Zusammenarbeit mit der Genfer Bank Pictet & Cie. Die Auswahl und Verantwortung der Beiträge liegt jedoch bei den Herausgebern von finews.ch Bisherige Texte von: Rudi Bogni, Adriano B. Lucatelli, Peter Kurer, Oliver Berger, Rolf Banz, Dieter Ruloff, Samuel Gerber, Werner Vogt, Claude Baumann, Walter Wittmann, Alfred Mettler, Peter Hody, Robert Holzach, Thorsten Polleit, Craig Murray und David Zollinger.
Kommt der eilige Europareisende von den windigen Hochmooren Schottlands her und strebt er zu den grossen Städten Nordenglands, denen gerade neues Leben eingehaucht wird, dann wird er irgendwo zwischen Carlisle und Newcastle bewusst oder unbewusst den Hadrianswall überschreiten.
Wie eine kleinere Ausgabe der chinesischen Mauer ist der Hadrianswall noch an vielen Stellen sehr sichtbar, läuft ähnlich einem von Christo mit leichter Hand hingeworfenen ‹running fence› geschmeidig über die rollende Hügellandschaft auf und ab und verliert sich irgendwo im dunstigen Horizont. Der grosse römische Kaiser Hadrian liess diese Mauer in den Jahren 122 bis 128 n. Chr. im äussersten Norden seines Reiches errichten, um den Grenzverkehr zu überwachen und unerwünschte Einwanderung schottischer und irischer Stämme in die Britannia inferior zu verhindern.
Hadrian war kein Rechtspopulist neuzeitlicher Prägung, kein Donald Trump, sondern ein Philosoph auf dem Kaiserthron, ein Mann mit Werten und humanen Visionen.
«Nur vor diesem kulturellen und historischen Hintergrund kann man den Brexit verstehen»
Der Hadrianswall ist den heutigen Briten immer noch wichtig. Sie hegen und pflegen ihn als eines der Schmuckstücke des National Trust. Selbst an nasskalten Tagen sieht man ganze Schulklassen und angeheiterte Rentergruppen die Mauer über Meilen hin abschreiten. Die Briten haben ein feines Gefühl dafür, dass man um das grosse Britannien bei aller Weltoffenheit auch eine kleine Mauer legen muss, um die nationale Eigenheit zu bewahren. «My home is my castle» und das Bild von ‹good old England› symbolisieren das ebenso wie die lange Mauer des grossen Kaisers.
Nur vor diesem kulturellen und historischen Hintergrund kann man den Brexit verstehen. Unter starkem innenpolitischem Druck ist David Cameron nach Brüssel gereist, um eine kleine institutionelle Mauer um Grossbritannien zu verhandeln, die dieses gegen unkontrollierte Immigration und den immer stärkeren Druck der Brüsseler Bürokratie auf die Londoner City schützt. Er wurde kalt abgefertigt.
Von der von Cameron ursprünglich geforderten Einschränkung des freien Personenverkehrs und der Stärkung der Kompetenzen der einzelstaatlichen Parlamente ist nicht viel geblieben. Im Wesentlichen geht es jetzt noch darum, dass die englische Regierung unter gewissen Voraussetzungen bestimmte Leistungen aus der Sozialhilfe an Immigranten einschränken kann.
«Analytisch stellen sich bei der Beurteilung von Brexit drei Fragen»
Am 23. Juni stimmen die Briten über das magere Verhandlungsergebnis ab und entscheiden darüber, ob sie in der EU bleiben (stay) oder diese verlassen wollen (leave). Analytisch stellen sich bei der Beurteilung von Brexit insbesondere drei Fragen: Was bedeutet er für England? Was für die EU? Und was für die Schweiz? Zuerst muss man sich aber überlegen, was der wahrscheinliche Ausgang des Urnengangs sein wird, und was dessen Hintergrund ist.
Will man sich über den möglichen Ausgang der Abstimmung ein Bild machen, dann gibt es eine Reihe von Orientierungshilfen. Die Umfragewerte haben sich in den letzten Wochen stark zu Ungunsten des Stay-Lagers entwickelt; heute haben im «FT Poll» die Befürworte der EU mit 43 Prozent nur noch einen hauchdünnen Vorsprung vor denjenigen, die austreten möchten (42 Prozent; Stand 17. April).
Die verschiedenen Finanz- und Rohwaren-Märkte sind volatil und drücken Unsicherheit wie Pessimismus aus. Die Wettbüros zeichnen indessen ein ganz anderes Bild: die Wetten stehen zur Zeit bei 2/9 zu 1/5, was man mit einer Wahrscheinlichkeit des Austritts von bloss 34 Prozent lesen muss. Und was sagen die am besten informierten Zeitzeugen? Der frühere Europaminister der Blair-Regierung, Denis MacShane hat ein Buch über den Brexit veröffentlicht und meint, dass die Möglichkeit eines Austritts immer wahrscheinlicher werde.
«Ich bin ich eher bei den Wettbüros als bei den Umfragen»
Wenn ich all diese Datenpunkte gegeneinander abwäge, glaube ich im heutigen Zeitpunkt nicht, dass die Briten austreten werden. Umfragewerte sind nicht zuverlässig, wie wir aus der schweizerischen Erfahrung wissen. Empirisch ist demgegenüber belegt, dass politische Wetten, bei denen Leute ihr eigenes Geld auf einen möglichen Ausgang setzen, sehr präzise Voraussagen erlauben. Somit bin ich eher bei den Wettbüros als bei den Umfragen.
Zudem wirkt bei solchen Abstimmungen wohl der so genannten ‹loss aversion bias›: Wir sind eher so prädisponiert, dass wir jeglichen Verlust vermeiden wollen als dass wir auf einen möglichen Gewinn setzen. Diese Erkenntnis der modernen Verhaltensökonomen, die der Volksmund schon seit langem als «lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach» kennt, spielt hier zu Gunsten der EU-Befürworter, und deshalb werden die Briten wohl in der EU bleiben.
Warum ist es aber überhaupt so weit gekommen, dass wir uns diese schwierigen Gedanken machen müssen? Der eigentliche Grund liegt darin, dass die Engländer auf dem Hintergrund ihrer Geschichte und ihrer Eigenart eben nur halbschwanger mit Europa sind. Dies hat kulturelle, politische und wirtschaftliche Gründe.
«Die Briten sind mehr Händler als Helden»
In kultureller Hinsicht stehen die Briten den geographisch weit entfernten Neuseeländern oder Australiern näher als den Deutschen oder Franzosen. Sie haben politisch betrachtet über beinahe ein Jahrtausend, seit der Magna Charta, einen Rechtsstaat und eine parlamentarische Demokratie aufgebaut, die in der Welt ihresgleichen sucht, und auf die sie zu Recht stolz sind.
Schliesslich sind sie mehr Händler als Helden. Anders als grosse Teile der Eliten in Frankreich oder Deutschland glauben sie an die spontane Ordnung, die aus freien Märkten entsteht; mit dieser Einstellung haben sie über Jahrhunderte hin das bedeutendste internationale Finanzzentrum der Welt errichtet, die mächtige Londoner City, ein Wunderwerk der freien Marktwirtschaft.
Die Engländer wollen sich nicht einreden lassen, sie seien eigentlich mehr Teil des flügellahmen Europas als des immer noch die Welt dominierenden Stammes der Angelsachsen. Sie lassen sich auch nicht ihre rechtstaatliche und demokratische Souveränität von Ländern beeinträchtigen, die eine weit dünnere und fragilere rechtsstaatliche und demokratische Tradition als sie selbst haben. Und schliesslich wehren sie sich dagegen, dass ‹le grand plan›, das politische Programm oder gar eine ausufernde Bürokratie bessere ordnende Kräfte seien als die Spontanität freier Märkte.
Letzten Endes geht es bei Brexit um Konzepte: Freiheit, liberale Marktwirtschaft und konservativer Respekt gegenüber bewährten Institutionen auf der einen Seite versus politische Visionen, Programme und Vertrauen in die gestaltende Kraft der Politik auf der anderen Seite.
«Der Weggang der Briten würde die freiheitliche Offenheit Europas beschädigen»
Wäre der Brexit gut für die Engländer? Kurzfristig und rein wirtschaftlich betrachtet eher nein, sagen die Ökonomen und die Mehrheit der Unternehmensführer. Langfristig ist das Bild wohl etwas neutraler. Die Engländer würden die Vorteile des Binnenmarktes verlieren, könnten aber gleichzeig ihre City und ihre traditionellen Institutionen besser schützen. Sie würden an Wendigkeit und politischer Autonomie gewinnen, müssten aber umgekehrt damit rechnen, dass Schottland Grossbritannien verlassen würde, um sich in die Arme der EU zu werfen.
Und wäre der Brexit gut für die EU? Nein. In wirtschaftlicher Hinsicht würde die EU wohl noch mehr leiden als die Engländer. Die EU wäre dann mit den Franzosen und den Deutschen von Völkern dominiert, deren Eliten traditionell an die gestaltende Kraft des Staates glauben, Bürokratie, Risikovorsorge und soziale Sicherheit permanent ausdehnen und die freie Marktwirtschaft immer stärker regulieren wollen.
Der Weggang der Briten würde die freiheitliche Offenheit Europas beschädigen und dessen Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den asiatisch und angelsächsisch dominierten Handelsräumen noch mehr und nachhaltig schwächen.
«Das pragmatische Durchkommen ist für uns wichtiger als Langzeitpläne»
Und die Schweiz? Bei uns würden sich viele der vehementen Europagegner über einen Brexit freuen, wie ich aus manchen Diskussionen weiss. Dies ist aber sehr kurzsichtig. Wie die Engländer sind auch wir mehr Händler als Helden. Das pragmatische und komfortable Durchkommen ist für uns wichtiger als Langzeitpläne, die regelmässig in einem wirtschaftlichen und sozialen Fiasko enden. Wenn das freiheitliche und konservativ-institutionelle Denken in Europa fehlt, würde uns die EU fremder und fremder, und die Hürden zu ihr immer höher.
Man muss dabei auch noch etwas anderes bedenken. Obwohl die Schweiz kein Mitglied der EU ist, ist sie viel mehr ein Teil Europas als Grossbritannien. Wir sind nicht ein angelsächsischer Stamm am insularen Rand Europas, sondern wir sind mitten drin im europäischen Kontinent und mit ihm sowohl mit unserer eigenen Herkunft wie auch durch die immense Immigration sprachlich und kulturell eng verwoben.
Wir sind an einer gewissen Stabilität unseres unmittelbaren Umfelds interessiert. Zudem haben wir einen grossen Vorteil gegenüber den Engländern: Wir sind nicht Mitglied der EU. Die Schweizer waren so klug und pragmatisch, dass sie ihr Verhältnis zu Europa jeweils gerade nur auf dem Minimum dessen hielten, was noch eine Plattform bildet, um einigermassen friedlich miteinander zu leben. Somit haben wir in vielen Fragen noch mehr unabhängigen Manövrierraum als ein Mitglied der EU, auch wenn wir das zum Preis geringerer Mitsprache erkauft haben.
«Mit Brexit hat die EU eine Chance verpasst»
Somit ist der Brexit wohl aussichtslos, kurzfristig wäre er für England schädlich, langfristig würden sich die Vorteile und Nachteile die Waage halten. Für die Schweiz wäre ein Brexit schlecht, und für die EU wäre er eine Katastrophe. Überhaupt ist die ganze Geschichte schon heute ein Malheur für die EU.
Die EU-Elite meint, sie habe sich gegenüber Cameron durchgesetzt und höhnt darüber, dass die Briten letzten Endes schon wüssten, was ihnen besser diene und deshalb für stay stimmen würden. Aber: Brexit wäre eine Chance gewesen, eine EU, die für alle sichtbar nicht mehr funktioniert, zu reformieren, in Richtung einer schlankeren Organisation, die sich auf das wesentliche beschränkt, nämlich eine Freihandelszone, gemeinsame Sicherheitspolitik und Koordination der Aussenhandelspolitik, und das Unwesentlich respektive Schädliche weglässt, also die Koordination der Steuerregime, die grenzenlose Personenfreizügigkeit und der zunehmende Druck auf eine gemeinsam gestaltete Sozialpolitik.
Mit Brexit hat die EU eine Chance verpasst und gezeigt, dass sie trotz grosser Probleme zurzeit nicht reformfähig ist. Wenn ich an die EU denke, kommen mir unweigerlich die Überlegungen des grossen britischen Denkers C.P. Snow zum Untergang der Republik Venedig in den Sinn: Snow dachte, die venezianische Elite hätte sich in ihre eignen, über Jahrhundert entwickelten Verhaltensweisen so verliebt, dass sie mit diesen auch dann noch weiterfuhren, als sie schon längst überholt waren: «They were fond of [their] pattern... they never found the will to break it.»
«Dann wäre der Brexit der Anfang von Euxit»
Der frühere polnische Aussenminister Radoslaw Sikorski sagte kürzlich, die EU sei zwei Schritte vor dem Abgrund entfernt, dem Brexit und der Wahl von Marine Le Pen zur französischen Staatspräsidentin. Beides wird ihr hoffentlich erspart bleiben. Langfristig muss die EU aber den Willen zur radikalen Reform finden, sonst zerbricht sie an etwas anderem als Brexit oder Le Pen.
Brexit ist eine Wortschöpfung, die sich aus «Britannien» und dem lateinischen Wort für Ausgang, Exitus, ableitet. Exitus hat aber im Lateinischen noch eine andere Bedeutung, wie er von den Medizinern verwendet wird, nämlich Tod. In diesem Sinne könnte man auch von Euxit sprechen. In vielen Jahren werden wir vielleicht sagen, Brexit sei die verpasste Chance gewesen, die EU zu reformieren. Dann wäre der Brexit der Anfang von Euxit, eine Metapher dafür, dass die EU nie die Kraft gefunden hätte, sich neu zu erfinden.
Peter Kurer studierte Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich und Chicago. Danach erwarb er das Anwaltspatent des Kantons Zürich. 1980 trat er in die internationale Anwaltssozietät Baker & McKenzie ein, wo er 1985 Partner wurde. Im Jahre 1991 gründete er mit sieben Kollegen die Kanzlei Homburger in Zürich. Als Leiter des Bereiches Gesellschaftsrecht betreute er dort zahlreiche M&A Transaktionen und Börsengänge. Zugleich war er Verwaltungsratsmitglied bei mehreren privaten und kotierten Gesellschaften.
Im Jahre 2001 wechselte Kurer als General Counsel (Chefjurist) und Mitglied der Konzernleitung zur UBS, 2008 übernahm er während der Finanzkrise vorübergehend das Präsidium der Bank.
Heute ist Kurer Partner der Private Equity Firma BLR, Verwaltungsratspräsident des Verlages Kein & Aber und des Telekommunikation-Unternehmens Sunrise sowie Mitglied mehrerer Verwaltungs- und Beiräte. Zugleich berät er Unternehmen in Fragen der Corporate Governance, Unternehmensakquisitionen, Kapitalmarkttransaktionen und Rechtsrisiken.
Peter Kurers neustes Buch «Legal and Compliance Risk: a Strategic Response to a Rising Threat for Global Business» erschien im Februar 2015 in der Oxford University Press.