Wieso ein flächendeckender Mindestlohn jenseits von Gut und Böse ist, erklärt Raphael Vannoni von der Schweizerischen Bankiervereinigung.
Raphael Vannoni ist Leiter Economic Analysis bei der Schweizerischen Bankiervereinigung
Am 18. Mai stimmen wir über einen flächendeckenden Mindestlohn ab. Dieser soll gemäss Initiativtext 22 Franken pro Stunde betragen oder hochgerechnet rund 4'000 Franken pro Monat.
Wie Sie wohl schon an diversen Stellen gelesen haben, würde die Schweiz damit den weltweit höchsten Mindestlohn aufweisen – auch kaufkraftbereinigt. Dies ist Fakt.
Wegzug von Unternehmen?
Mehr oder weniger umstritten hingegen sind die Auswirkungen, die ein Mindestlohn auf die Beschäftigung hätte. Die Initianten sprechen davon, dass die Arbeitslosigkeit nicht ansteigen würde, da Wenigverdienende ihren Zweit- oder Dritt-Job aufgeben könnten. Klar denkende Autoren hingegen gehen von steigender Arbeitslosigkeit sowie einer Schädigung unseres Ausbildungssystems aus.
Ein Grund liegt darin, dass einerseits Unternehmen wegen der sinkenden schweizerischen Wettbewerbsfähigkeit wegziehen und andererseits die Anreize für eine Ausbildung abnehmen würden.
Neue Dimensionen des Einkaufstourismus
Typische Tieflohnbranchen sind der Detailhandel oder Frisöre. Ein staatlich verordneter Mindestlohn schlägt sich direkt auf die Konsumenten nieder. Wären Sie bereit, für Ihren Coiffeurbesuch tiefer in die Brieftasche zu greifen? Oder werden Sie, während Ihr Partner oder Partnerin im grenznahen Ausland den Wocheneinkauf tätigt, gleich noch Ihre Haare schneiden lassen?
Diese Überlegung könnte auch für andere Branchen gemacht werden – mit denselben Auswirkungen. Der Einkaufstourismus kann somit aufgrund unüberlegter Handlungen neue Dimensionen annehmen, verbunden mit entsprechend negativen Folgen für unsere Wirtschaft.
Die Banken wären zwar nicht direkt von der Initiative betroffen, doch indirekte Effekte von geschwächten Unternehmen würden sich auch auf den Bankensektor niederschlagen.
Andere Lösungen für die Working Poor
Lassen wir uns nicht auf dieses gewagte Experiment ein. Sie können von mir aus zu vielem Ja sagen, aber nicht zu einem flächendeckenden Mindestlohn. Ansonsten verliere ich meine Haare aufgrund Ihres fehlenden ökonomischen Verständnisses und brauche den Frisör meines Vertrauens, wohlgemerkt in der Schweiz, nicht mehr aufzusuchen.
Wie auch andere Initiativen ist diese gut gemeint, aber nicht gut gemacht. Das Anliegen, dass jede Person von ihrem Lohn leben kann, verstehe ich sehr gut und kann ich unterstützen. Doch ich zweifle sehr, dass dieser Betrag für eine Familie ausreicht. Auf der anderen Seite ist er für Alleinstehende zu hoch gegriffen. Zudem weist ein Lohn von 4'000 Franken im Tessin nicht dieselbe Kaufkraft auf wie beispielsweise in Zürich.
Sie sehen, eine Differenzierung der Lebensumstände ist nötig. Wenn die Initianten wirklich die Situation der Working Poor verbessern möchten, dann lancieren sie eine Initiative zur individuellen steuerlichen Entlastung von einkommensschwachen Haushalten.