Nationale Interessen sind wichtiger als Ansprüche der Obligationäre

Auch bezüglich der Interpretation von Kapital- und Liquiditätskennzahlen empfiehlt sich eine Portion Vorsicht. «Hohe oder überdurchschnittliche Kapitalquoten sind keine hinreichende Voraussetzung für eine hohe Bonität, wie die Credit Suisse Group zuletzt noch einmal demonstriert hat.» Zudem beschränkt die rechtliche Struktur eines Bankkonzerns die Aussagekraft. Stark international tätige Banken, wo substanziell Kapital in Auslandeinheiten in Grossbritannien und in den USA gebunden ist, werden laut I-CV «diese Mittel nur sehr bedingt und begrenzt zur Deckung von Anforderungen in anderen rechtlichen Einheiten des Konzerns nutzen können», ein Problem, das auch die weltweit aktiven US-Banken betrifft.

«Trotz aller Bekenntnisse der (supra-) nationalen Bankaufsichtsbehörden zur Zusammenarbeit ist kreditanalytisch vorsichtigerweise davon auszugehen, dass die jeweiligen nationalen Interessen Vorrang haben und Gläubiger anderer Konzerneinheiten ungeachtet der Konzernkennzahlen Schaden nehmen können», eine Aussage der Studie, die nicht nur die Obligationäre aufhorchen lassen sollte.

Liquidität: Jede Konzerneinheit einzeln prüfen

Hinsichtlich der Verfügbarkeit der Liquidität hegen die Bonitätsprüfer ähnliche Vorbehalte. «Gerade bei international agierenden Banken ist z.T. sehr substantielle Liquidität in ausländischen Finanzzentren gebunden und nur schwierig repatriierbar.»Primär entscheidend sei die angemessene Liquidität jeder relevanten rechtlichen Konzerneinheit. Vor kurzem hatte eine Studie der ZKB gezeigt, dass die Frage, in welcher Jurisdiktion die Liquidität tatsächlich liegt, sogar die Obligationäre von Schweizer Industrieunternehmen umtreibt.

Trotz dieser Relativierungen des rosigen Gesamtbilds erwartet I-CV mehrheitlich keinen Druck auf die aktuellen Bonitätseinschätzungen. Die sich abzeichnenden guten Ergebnisse 2024 würden primär für Aktienrückkäufe und Dividenden, d.h. zugunsten der Shareholder, eingesetzt, lautet die Prognose. Diese Aktionärspflege sei angesichts der vergleichsweise tiefen Börsenbewertung v.a. der europäischen Banken verständlich und eine willkommene Alternative zu Fusionen und Übernahmen, die in der Vergangenheit zu oft nicht überzeugt hätten.

Unicredit und Commerzbank: «Betriebswirtschaftlich sinnvoll»

Da die Studie finalisiert wurde, bevor die Unicredit sich an der Commerzbank beteiligte, wollte finews.ch von I-CV-Bankspezialist Guido Versondert wissen, wie er denn eine Übernahme des deutschen Instituts durch die Italiener einschätzen würde. «Es handelt sich um eine Transaktion, die betriebswirtschaftlich sinnvoll wäre – und ich könnte auch aus kreditanalytischer Sicht gut damit leben», lautet seine Antwort.

Unicredit verfüge über einen langen Erfolgsausweis in der Integration anderer Banken, mit HVB auch in Deutschland. Der Angreifer agiere risikobewusst und sei auf Effizienz bedacht, begründet Versondert.

Fachkräftemangel und Mittelstandsfinanzierung

Und an die Adresse der deutschen Regierung: «Man kann nicht immerzu den Fachkräftemangel beklagen und zugleich bestimmte wenig rentable Unternehmen und auch Banken um jeden Preis integral erhalten wollen. Das verhindert, dass Fachkräfte freigesetzt werden, die anderswo ökonomisch nützlicher eingesetzt werden könnten.»

Vom oft gehörten Argument, dass die Finanzierung mittelständischer deutscher Unternehmen ohne Commerzbank gefährdet wäre, hält er wenig. «Die Bedeutung der Commerzbank auf diesem Feld wird zurzeit überhöht. Selbst wenn Unicredit dieses Geschäft nach einer Übernahme stark reduzieren würde, was eher unwahrscheinlich ist, gäbe es immer noch viele andere Banken in Deutschland, die in die Bresche springen könnten.»