US-Regionalbanken seien teilweise schlecht auf die Zinswende vorbereitet gewesen, sagt Christoph Sax, Chief Investment Officer beim VZ Vermögenszentrum. Europäische Kreditinstitute seien zwar deutlich stabiler aufgestellt als vor der Finanzkrise. Es sei aber schwierig abzuschätzen, wie sich die Zinswende noch auf die Bilanzen auswirken werde.
Herr Sax, was sind die drei Hauptaufgaben Ihres Jobs als Chief Investment Officer?
Ganz allgemein gesagt: Ich helfe unseren Kundinnen und Kunden, besser vorbereitet in den Ruhestand zu gehen. Meine Arbeit basiert auf folgenden Säulen. Erstens bin ich für die Analyse der Wirtschaft und der Finanzmärkte aus fundamentaler Sicht zuständig. Auch die interne und externe Kommunikation meiner Einschätzungen gehört zu meinen Aufgaben. Zudem wirke ich bei der Festlegung der Anlagepolitik für die Vermögensverwaltung mit.
Was sind die Nachteile dieser Arbeit?
Man verbringt viel Zeit am Bildschirm. Das macht sich bei meinen Augen bemerkbar.
Welche Tipps würden Sie Absolventinnen und Absolventen geben, die eine Karriere im Investmentbereich anstreben?
Sich nicht nur auf Modelle und Zahlen zu konzentrieren, sondern sich für das wirkliche Leben zu interessieren. An den Geschäftsmodellen der Unternehmen, an der Wirtschaftspolitik, an der Geldpolitik – oder ganz allgemein: an der Story hinter den Zahlen.
Wie würden Sie Ihren Investmentprozess beschreiben?
Wir investieren breit diversifiziert und weitgehend passiv. Unsere Anlagephilosophie ist stark auf strategische Entscheide ausgerichtet, Experimente gehen wir keine ein. Wir agieren frei von Interessenkonflikten. In den Vermögensverwaltungsmandaten werden keine eigenen Instrumente eingesetzt.
«In den Vermögensverwaltungsmandaten werden keine eigenen Instrumente eingesetzt»
Welche Zwischenbilanz ziehen Sie aus dem bisherigen Jahresverlauf?
Ich sehe das Glas halbvoll, obwohl die US-Wirtschaft noch in die Rezession rutschen dürfte. Die Aktienmärkte sind gut gestartet, auch wenn die Marktbreite vor allem in den USA zu wünschen übrig lässt.
Was bereitet Ihnen als CIO derzeit Kopfzerbrechen?
Am meisten Sorgen bereiten mir das anhaltende Schuldenwachstum und die nach wie vor sehr hohe Überschussliquidität im Finanzsystem.
Sehen Sie einen Weg aus der Schuldenfalle?
Der demografische Wandel ist in vollem Gange, unsere Gesellschaft verändert sich strukturell. Es besteht daher Handlungsbedarf, und wir müssen uns den demographischen Herausforderungen auf wirtschaftlicher und politischer Ebene stellen.
Die Inflation bleibt hoch. Wann werden wir in den USA und in der Eurozone wieder Raten von 2 Prozent sehen?
Gegen Ende 2024 dürfte dies in beiden Währungsräumen der Fall sein, sofern die Notenbanken ihre Geldpolitik weiterhin strikt auf die Inflationsbekämpfung ausrichten. Andernfalls dürfte die Teuerung noch länger etwas höher bleiben.
«Die Teuerung dürfte in der Schweiz bald auf 2 Prozent sinken, danach aber in der Nähe dieser Marke verharren»
Wie wird sich die Teuerung in der Schweiz entwickeln?
Sie wird weiter zurückgehen, aber zögerlicher als im Frühjahr. Die Aufwertung des Frankens hat den Rückgang zuletzt begünstigt. Allerdings dämpfen steigende Mieten das Abwärtspotenzial. Die Teuerung dürfte bald auf 2 Prozent sinken, danach aber in der Nähe dieser Marke verharren.
Wird die Inflation noch von Angebotsschocks getrieben?
Nein. Wir hatten einen Angebotsschock bei Energie und teilweise im Warenhandel sowie bei Nahrungsmittelrohstoffen. Das liegt hinter uns. Was die Preise jetzt noch treibt, ist die hohe Nachfrage im Dienstleistungssektor und der ausgetrocknete Arbeitsmarkt. Hier wirken noch die Nachholeffekte nach der Pandemie. Auch die relativ expansive Fiskalpolitik spielt eine Rolle.
Ein anderes Thema ist die «Greedflation». Unternehmen nutzen das inflationäre Umfeld, um ihre Gewinnmargen zu erhöhen. Dadurch heizen sie die Inflation an. Überrascht Sie das?
Nicht wirklich. In Zeiten von Knappheit und hoher Nachfrage gibt es Spielraum für Preiserhöhungen. Aber das pendelt sich wieder ein, wenn die Nachfrage nachlässt. Dieser Prozess ist in vielen Bereichen bereits im Gange – zum Beispiel in der Industrie, bei Energieträgern oder bei bestimmten Konsumgütern.
Sind höhere Zinsen ein geeignetes Instrument, um die durch steigende Margen ausgelöste Inflation zu bekämpfen?
Die Margen konnten nur deshalb so stark ausgeweitet werden, weil das Angebot vorübergehend knapp war und nach der Pandemie ein Konsumboom einsetzte. Leitzinserhöhungen zielen darauf ab, die Nachfrage zu dämpfen. Insofern sind sie durchaus angemessen. Das Beispiel Grossbritannien zeigt aber, dass neue Handelshemmnisse auch den Margenspielraum erhöhen. Dort steigen die Preise schneller als in der EU. Mit den geopolitischen Konflikten haben sich die Handelshemmnisse generell verstärkt.
In den USA hat die Fed eine Pause bei den Zinserhöhungen eingelegt. Wann ist in Europa und in der Schweiz mit einer Zinspause zu rechnen?
Die Schweizerische Nationalbank wird den Leitzins am Donnerstag voraussichtlich um 0,25 Prozentpunkte anheben. In der Eurozone und in der Schweiz dürfte nach der Sommerpause eine weitere Zinserhöhung folgen. Bei der SNB ist danach wohl Schluss. Die Europäische Zentralbank dürfte zumindest eine Pause einlegen.
«In den USA ist der Staat viel ausgabefreudiger als früher, also muss die Fed auch mehr bremsen»
Unterschätzt der Markt das Risiko weiterer US-Zinserhöhungen in der zweiten Jahreshälfte?
Die Märkte gehen davon aus, dass sich das Inflationsproblem nun schnell lösen wird. Die Erwartung vieler Anleger, dass die Fed die Zinsschraube bald wieder lockern wird, halte ich jedoch für verfrüht. Die Fed könnte noch zwei weitere Zinserhöhungen vornehmen. In den USA ist der Staat viel ausgabefreudiger als früher, also muss die Fed auch mehr bremsen.
Die Schweizer Wirtschaft ist im ersten Quartal 2023 solide gewachsen. Besteht die Gefahr, dass steigende Zinsen das Wachstum abwürgen?
Die Vorlaufindikatoren deuten auf eine vorübergehende Stagnation, aber nicht auf einen Einbruch der Wirtschaftsleistung hin. Im Gesamtjahr 2023 dürfte die Wirtschaft nur leicht expandieren. Für 2024 ist eine moderate Beschleunigung wahrscheinlich.
Wie schaut es in der Eurozone aus?
Die Eurozone befindet sich nach den jüngsten Daten bereits in einer Rezession. Auch im zweiten Quartal dürfte die Wirtschaft allenfalls stagniert haben. Wichtig ist aber: Die Delle ist nicht besonders tief.
Und in den Vereinigten Staaten?
In den USA ist die Rezession wohl nur noch eine Frage der Zeit. Die geldpolitische Straffung wirkt mit Verzögerung, weil die US-Haushalte dank der staatlichen Stützungsmassnahmen während der Pandemie über höhere Reserven verfügen. Zudem stützt der Staat mit Industriesubventionen die Baukonjunktur. Ich denke, wir haben die volle Wirkung der geldpolitischen Straffung noch nicht gesehen. Und die Fed wird ihre Bilanz auch nach den Leitzinserhöhungen weiter verkürzen.
In der Vergangenheit hat eine Straffung der Geldpolitik nach einer langen Phase des billigen Geldes oft eine Bankenkrise ausgelöst. In den USA sind bereits einige Finanzinstitute zusammengebrochen. Ist das Schlimmste überstanden?
Im Moment sieht es so aus. Es hängt aber auch davon ab, wie stark die Fed den Leitzins noch anheben muss und vor allem, wie lange sie ihn hoch hält. Es ist denkbar, dass weitere Regionalbanken in Schieflage geraten. Kleinere Banken sind in den USA weniger streng reguliert. Sie waren zum Teil schlecht auf die Zinswende vorbereitet. Bei den Grossen sehe ich dagegen weniger Probleme. Sie werden als Gewinner aus der Branchenkonsolidierung hervorgehen.
«Schweizer Finanzinstitute sind gut kapitalisiert und können allfällige Kreditausfälle gut absorbieren»
Die europäischen Banken haben sich in den letzten Jahren erholt. Je nach Land gibt es aber immer noch hohe Berge an faulen Krediten. Wie stabil ist der Bankensektor im Euroraum?
Mit Sicherheit viel stabiler als vor der Finanzkrise. Die europäischen Banken haben mehr Reserven. Auch operativ haben sie Fortschritte gemacht. Es ist aber schwierig abzuschätzen, wie sich die Zinswende noch auf die Bilanzen auswirken wird. Deshalb ist auch in Europa eine gewisse Vorsicht angebracht.
Wie solide sind die Schweizer Finanzinstitute aufgestellt?
Grundsätzlich sind sie solide. Sie sind auch gut kapitalisiert und können allfällige Kreditausfälle gut absorbieren. Die Credit Suisse war ein Einzelfall.
Höhere Einlagenzinsen schmälern die Rentabilität der Banken, wie die Branche selbst warnt. Sehen Sie darin eine Gefahr für die Finanzstabilität?
Ich sehe keine allzu grosse Gefahr für die Finanzstabilität. Die Zinswende eröffnet langfristig höhere Ertragschancen: Die Nettozinsmargen werden steigen. Kurzfristig kann die Ertragskraft aber leiden – vor allem, wenn die Bilanzen nicht ausreichend gegen Zinsänderungen abgesichert sind. Viele Banken haben hohe Hypothekenbestände mit festen Laufzeiten und niedriger Verzinsung. Die Refinanzierungskosten sind aber gestiegen.
Im Schweizer Börsenleitbarometer SMI hat sich die Gewichtung der Bankaktien über die vergangenen 20 Jahren etwa halbiert. Was sagt dies über die Schweizer Finanzindustrie bzw. den Aktienmarkt aus?
Einerseits spiegelt sich darin der relative Bedeutungsverlust des Finanzsektors. Andererseits zeigt es aber auch, dass passiv investierende Anleger, die auf Schweizer Aktien setzen, heute weniger Klumpenrisiken eingehen und noch besser diversifiziert sind.
Nehmen wir an, wir treffen uns in einem Jahr wieder. Über welches Börsenthema würden wir dann sprechen?
Die ersten Leitzinssenkungen und damit verbunden eine Aufhellung der Konjunkturaussichten.
Christoph Sax ist seit 2022 Chief Investment Officer beim VZ Vermögenszentrum. Zuvor war der promovierte Ökonom, der an der Universität Basel Wirtschaftswissenschaften studierte, während rund fünf Jahren Chefvolkswirt der Migros Bank. Vor seinem Wechsel zur Migros Bank war der 47-jährige begeisterte Wassersportler und zweifache Familienvater unter anderem stellvertretender Leiter Finanzanalyse bei der Luzerner Kantonalbank. Davor arbeitete er mehrere Jahre als Ökonom im Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO), zuerst in der Direktion für europäische Angelegenheiten, dann als stellvertretender Leiter des Ressorts «Makroökonomische Unterstützung».