Der auch im internationalen Vergleich ungewöhnlich grosse Zinsschritt der Nationalbank wirft die Frage auf, wie gut oder schlecht es um die Schweizer Wirtschaft steht. In Anbetracht der Informationen, die Unternehmen zum Geschäftsverlauf machen, war der Entscheid zwar nicht zwingend, wird aber doch verständlicher.  

Am Donnerstag vor einer Woche hat die Schweizerische Nationalbank (SNB) manchen Ökonomen und Analysten auf dem falschen Fuss erwischt. Statt den Leitzins wie gewohnt um einen Viertelprozentpunkt zu senken, rang sich das Direktorium zu einem doppelt so grossen Schritt durch. Nun beträgt der SNB-Leitzins noch 0,50 Prozent.

Das Ausmass des Zinsschritts ist auch im internationalen Vergleich bemerkenswert. Denn ebenfalls vor einer Woche hat die Europäische Zentralbank (EZB) ihren Leitzins um nur einen Viertelprozentpunkt reduziert, und auch die US-Notenbank Fed hat am Mittwochabend erwartungsgemäss eine Senkung in diesem Umfang bekanntgegeben.

US-Notenbank senkt nur halbherzig

In seiner Mitteilung betont der Offenmarktausschuss (Federal Open Market Committee, FOMC), dass die sich die Risiken in Bezug auf die Erreichung der beiden Ziele Preisstabilität und Vollbeschäftigung die Waage hielten und der Wirtschaftsausblick unsicher sei. Man werde die Entwicklungen weiter aufmerksam beobachten und stehe bereit, den geldpolitischen Kurs anzupassen, wenn Risiken auftauchten, welche die Zielerreichung gefährden könnten.

Zudem beabsichtigt die US-Notenbank, die Bestände an Staats- und Hypothekaranleihen in ihrer Bilanz weiter zu reduzieren, was tendenziell geldpolitisch restriktiv wirkt. Und die einzige abweichende Stimme im Ausschuss wollte die Zinsen nicht etwa stärker, sondern gar nicht senken. Entsprechend interpretierten die Märkte den Entscheid als eine Senkung, auf die eine längere Pause folgen kann.

Wie steht es um die Schweizer Wirtschaft?

Um so eindringlicher stellt sich die Frage, weshalb sich die SNB zu einem grossen Zinsschritt entschlossen hat – abgesehen von der Begründung, dass die Inflation rascher zurückkommt als erwartet. Steht es denn um die Schweizer Wirtschaft so schlecht?

Eine Antwort könnte das Quartalsheft geben, das die SNB jeweils ein paar Tage nach der Präsentation ihres vierteljährlichen geldpolitischen Entscheides publiziert. Es enthält u.a. den Bericht «Konjunktursignale», der, in Anlehnung an das bekannte Beige Book der Fed und wegen der Corporate-Design-Farbe der Schweizer Währungshüter, auch Blue Book genannt wird.

Weite Teile der Industrie leiden wegen Deutschland und China

Der am Mittwoch veröffentlichte Bericht basiert auf Informationen, welche die Delegierten für regionale Wirtschaftskontakte in Gesprächen mit Unternehmensleitungen in der ganzen Schweiz zusammengetragen haben. Insgesamt wurden im Oktober und November 241 Unternehmensgespräche geführt und ausgewertet. Das Blue Book bildet für das Direktorium eine wichtige Ergänzung zu den sonst doch eher modell- und damit theorielastigen Entscheidungsgrundlagen.

Wie schon in der Ausgabe vom Oktober verläuft die Entwicklung der Wirtschaft zweigeteilt. Schweizer Unternehmen, die in der Metall- und Kunststoffverarbeitung sowie im Maschinenbau tätig sind, leiden unter der schwachen Nachfrage der deutschen Automobilindustrie und der dortigen Bauwirtschaft. Die Uhrenindustrie wiederum kränkelt wegen der schwachen Nachfrage aus China, zudem sind die Lagerbestände hoch.

Zähe Kreditverhandlungen mit Banken, aber besser verfügbares Risikokapital

Auf der anderen Seite bilden die Life-Science-Branche und Teile der Nahrungsmittelindustrie eine Wachstumsstütze. Die Medizinal- und Pharmaindustrie profitiert gemäss SNB von der robusten Nachfrage aus den USA.

Und während einzelne Unternehmen darauf verweisen, dass die Kreditverhandlungen mit den Banken «derzeit eher zäh verlaufen» und die angebotenen Zinskonditionen weniger attraktiv sind als in der Vergangenheit, konstatieren Biotech-Vertreter, dass sich die Verfügbarkeit von Risikokapital aufgrund des internationalen Zinsrückgangs verbessert hat.

Robuster Banken- und Versicherungssektor

Ausserhalb des Industriesektors ist der Geschäftsgang ebenfalls zweigeteilt. Im Detail- und Grosshandel sowie in der Logistik wird er von der SNB als «gedämpft» bezeichnet, und auch die Entwicklung im Gastgewerbe ist «verhalten». Demgegenüber wächst der Banken- und Versicherungssektor robust.

Neben dem Hypothekargeschäft trägt auch ein Bereich neueren Datums zu diesem Wachstum bei. «Zunehmend können auch Fintech-Dienstleistungen erfolgreich angeboten werden.»

Baubewilligungsverfahren und Einsprachen als Bremsklötze

Ansprechend läuft es auch in der Technologiebranche (ICT) und im Baugewerbe, wo sich die Auftragslage dank öffentlicher Grossprojekte und gesunkener Zinsen verbessert hat.

Es könnte sogar noch mehr sein, stellt die SNB dennoch fest: «Allerdings verzögern zum Teil langwierige Baubewilligungsverfahren und Einsprachen die Realisierung von Bauvorhaben.»

Arbeitsmarkt im Gleichgewicht – Nur noch punktueller Fachkräftemangel

Abgekühlt hat sich auch der Arbeitsmarkt, wo der Personalbestand erstmals seit längerem wieder dem Bedarf der Unternehmen entspricht. In der Industrie wird der Bestand als zu hoch eingeschätzt, einige Betrieb haben Kurzarbeit und ersetzen Abgänge nicht mehr.

Auch der lange beklagte Fachkräftemangel – ein Argument der Anhänger der Personfreizügigkeit und damit der Befürworter einer Neuregelung des Verhältnisses der Schweiz zur EU, eine Thematik, über die der Bundesrat am Freitag informieren dürfte – entspannt sich. Die Rekrutierungsschwierigkeiten bewegen sich nämlich fast auf normalem Niveau, und in der Industrie können Stellen wieder rascher besetzt werden. Engpässe bestehen nur noch bei «sehr spezialisierten IT-Fachkräften, bei Ingenieuren oder in bestimmten Gesundheitsberufen» sowie bei Führungspositionen im Bau.

Schlechtere Einschätzung der Geschäftsaussichten

Wenig überraschend berichten Industrieunternehmen aus den schwachen Branchen, dass ihre Margen stark unter Druck stehen. «Als zusätzliche Herausforderung nennen die Unternehmen dabei häufig die Aufwertung des Frankens gegenüber dem Euro», hält die SNB fest.

Die Unternehmen beurteilen die Geschäftsaussichten generell weniger zuversichtlich. Sie erwarten für die nächsten zwei Quartale nur noch ein bescheidenes Umsatzwachstum, wobei die Unsicherheit hoch bleibt. «Die Unternehmen können ihre Erwartungen meist nicht auf bereits eingegangene Aufträge stützen. Sie hoffen aber darauf, dass diese in den kommenden Quartalen eintreffen werden.»

«Zunehmende regulatorische Komplexität» als Hemmschuh für das Wachstum

Als hemmende Faktoren werden die Industriepolitik in China und die protektionistische Ausrichtung der USA angegeben, aber auch Wechselkursschwankungen und die «zunehmende regulatorische Komplexität in der Schweiz und in Europa».

Entsprechend verhalten fallen denn auch die Investitionspläne aus, und Personal wird insgesamt nur moderat aufgebaut. «Unternehmen, die bereits über Standorte im Ausland verfügen, erwägen vermehrt, Arbeitsplätze dorthin zu verlagern», heisst es mit Blick auf die Industrie. Hingegen planen Dienstleistungs- und Bauunternehmen Neueinstellungen.

Die Unternehmen rechnen angesichts der rückläufigen Teuerung, der einfacheren Rekrutierung und der gedämpften Geschäftsaussichten mit einem Rückgang des Lohnwachstums. Die Inflationserwartungen wurden nach unten angepasst, liegen aber weiterhin im Bereich, den die SNB mit Preisstabilität gleichsetzt (0 bis 2 Prozent).

Nicht zwingend, aber nachvollziehbar

Und liefert das aktuelle Blue Book nun einen eindeutigen Grund für den grossen Zinsschritt der SNB? Zwingend erscheint er aus der Perspektive der Unternehmen nicht gewesen zu sein, zeichnet sich doch keine Krise ab. Aber der Bericht enthält einige Indizien, die den Entscheid des Direktorium verständlich machen.

Erstens die anhaltende Schwäche grosser Teil der Industrie und die schlechtere Einschätzung der Geschäftsaussichten durch die Unternehmen. Zweitens der Umstand, dass in diesem Umfeld ein noch stärkerer Franken als zusätzliche Bremse wirken würde. Und drittens die Abkühlung am Arbeitsmarkt, die moderaten Lohnerhöhungen und tieferen Inflationsaussichten, die aus Sicht der SNB einen grösseren Zinsschritt erlaubten, ohne ein wesentliches Risiko einzugehen, die Preisstabilität deswegen nicht mehr gewährleisten zu können.