Die Dezember-Sitzungen der führenden Notenbanken wurden an den Aktienmärkten als Startschuss für eine kräftige Kursrally aufgefasst. Doch inzwischen erklären mehrere Volkswirte: Für eine Entwarnung ist es noch zu früh.

«Alles nicht so schlimm» – so müsste man die Stimmung zusammenfassen, wenn man sich die Entwicklung der Aktienmärkte der vergangenen Wochen ansieht. Seit Mitte Dezember hat das Schweizer Leitbarometer SMI rund 5 Prozent zugelegt, der DAX deutlich über 8 Prozent und der Dow Jones mehr als 4 Prozent. Dem Optimismus der Märkte konnten bisher auch nicht die ersten eher verhaltenen Unternehmenszahlen zu den Jahresabschlüssen etwas anhaben.

Die Erleichterung ruht vor allem auf der Erwartung, dass in Europa ein Energieengpass ausbleiben wird und die Inflation ihren Zenit offensichtlich überschritten hat. Das werde den Notenbanken mehr Spielraum verleihen, um bei den Zinserhöhungen den Fuss vom Gaspedal zu nehmen oder um schneller als bisher gedacht wieder in den Senkungs-Modus zu schalten.

Kampf gegen Inflation geht weiter

Doch diesen Hoffnungen traten jüngst einige Volkswirte entgegen. So warnte der Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, Philip Lane, dass im Euroraum die Zinsen im Kampf gegen die Inflation weiter angehoben werden müssen. «Im vergangenen Jahr konnten wir sagen, dass es klar ist, dass wir die Zinssätze auf ein normaleres Niveau anheben müssen, und jetzt sagen wir, wir müssen sie in den restriktiven Bereich bringen», erklärte er in einem Interview mit der «Financial Times» (Artikel bezahlpflichtig). Das bedeutet, dass die EZB-Zinsen in einen Bereich steigen werden, bei dem die Wirtschaftsaktivität gebremst wird.

Wo genau der Gipfel der Zinserhöhungen liegen werde, sei weiter unklar. Lane geht davon aus, dass man aktuell im neutralen Bereich liegt. «Dennoch sind wir immer noch nicht da, wo die Risiken mehr zweiseitig oder symmetrisch werden. Daher müssen wir die Zinsen mehr anheben.» Damit bezieht er sich auf die aktuell komplexe Gemengelage von steigenden Preisen für Importe und Rohstoffe, höheren erzielten Exportpreisen und der Entwicklung der Löhne.

Der Balanceakt zwischen zu viel und zu wenig, werde eine langfristige Aufgabe. «Das ist nicht nur ein Thema für die nächste oder die nächsten paar Sitzungen, es wird ein Thema für die nächsten ein oder zwei Jahre werden», so der Ökonom weiter. Auch werden die Zeiten einer anhaltend niedrigen Inflation – wie vor der Corona-Pandemie – nicht wieder zurückkehren.

Unter 4 Prozent wird es schwierig

Ähnlich äussert sich Philipp Hildebrand (Bild unten). Der frühere SNB-Präsident und heutige Vizepräsident von Blackrock rechnet zwar mit einem raschem Absinken der Inflation von den derzeitigen Spitzenwerten, ab einer Schwelle von 4 Prozent werde es aber harzig gehen.

«Die Inflation wird sehr schnell zurückgehen», sagte Hildebrand gegenüber «Bloomberg». «Viele von uns werden überrascht sein, wie schnell die Teuerungsrate fallen wird.» Obwohl er erwartet, dass die Inflation zügig von neun auf vier Prozent sinken wird, «wird es schwierig sein, sie unter vier oder drei (Prozent) zu bringen», sagte er.

hildebrand

(Bild: Keystone)

Der Markt liege falsch und sei viel zu optimistisch, um zu glauben, dass die Zentralbanken irgendeine Art von Lockerung vornehmen werden: «Ich sehe keine Chancen für eine Lockerung in diesem Jahr», sagte er.

Die Zentralbanken werden ihren Straffungskurs fortsetzen, da sie das Risiko eines Wiederauflebens der Inflation begrenzen wollen und darauf bedacht sind, ihren langfristigen Anker für die Inflationserwartungen nicht zu verlieren.

Verfrühte Siegeserklärung

Auch der Harvard-Professor und frühere Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, Kenneth Rogoff, goss Wasser in den Wein und warnte vor den Folgen eines deutlichen Wirtschaftsabschwungs in den USA und Europa. «Ich erwarte eine tiefe Rezession in Europa», sagte Rogoff in einem Interview mit dem «Handelsblatt» (Artikel bezahlpflichtig) am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos. Anderslautende Prognosen würden verfrühte Siegeserklärung in der Russland-Ukraine-Situation als Grundlage nehmen und die weiter hohen Unsicherheiten ausser Acht lassen.

Zwar habe die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) erklärt, sie wolle im Kampf gegen die Inflation eine Rezession in Kauf nehmen, auch um spätere Folgen der hohen Preise zu verhindern. Es sei jedoch nicht klar, ob der Plan so aufgehe. Und der robuste Arbeitsmarkt erlaube es der Fed, die Zinsen weiter zu erhöhen.

Die nächste Sitzung des Offenmarktausschusses der Fed beginnt am 31. Januar, die nächste Zinssitzung der EZB ist am 2. Februar. Die turnusmässige geldpolitische Lagebeurteilung der SNB erfolgt erst am 23. März.