Ein «Brexit» hätte fatale Folgen für die britischen Finanzmärkte, warnt David Stubbs von J.P. Asset Management. Doch er versteht auch, dass die Schweiz der EU fern bleibt.   


Herr Stubbs, Sie warnen schon seit einiger Zeit vor den Folgen eines «Brexit». Warum kommt das Thema in den Medien bislang nicht häufiger zur Sprache?

Vorläufig überlagern andere Themen den «Brexit», allen voran die Flüchtlingskrise in Europa, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung in Euroland verbunden mit der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Ausserdem ist es vorläufig unklar, wann die Abstimmung über das Referendum stattfinden wird. Das kann in ein oder auch erst in zwei Jahren sein, jedenfalls spätestens Ende 2017.

Warum sollte der «Brexit» die Anleger kümmern?

Aktien britischer Firmen machen in paneuropäischen Fonds im Durchschnitt etwa ein Drittel aus, beim Stoxx Europe 600-Index sind es beispielsweise 30 Prozent. Insofern ist ein allfälliger «Brexit» schon relevant. Denn falls das Referendum Erfolg hat, könnte es zu enormen Kursveränderungen kommen.

Warum?

Zunächst einmal ist Grossbritannien ein Land mit offenen Märkten, einer langen Handelstradition und einer grossen internationalen Ausstrahlung. Eine Abschottung, also ein Austritt aus der EU, würde das Ausland schlecht goutieren und dem Land einen Misstrauens-Kredit einbrocken.

«Man darf die Erfolgschancen eines Brexit nicht unterschätzen»

Zudem haben viele internationale Firmen ihren Europa-Sitz in London. Sie müssten sich zwangsläufig fragen, ob es noch Sinn macht, in einem Land ausserhalb der EU domiziliert zu sein. Es wird allerdings je nach Informationsfluss schon im Vorfeld der Abstimmung zu einer erhöhten Volatilität in britischen Aktien kommen.

Mit welchen Konsequenzen?

Vor allem Small- und Mid Caps wären davon betroffen, weil sie stärker auf solche Ereignisse reagieren. Parallel dazu dürfte das britische Pfund, je näher der Abstimmungstermin heranrückt, an Wert verlieren.

Investoren tun gut daran, ihre Anlagen in ein Portfolio an Euroland-Titeln sowie in eines mit britischen Aktien aufzuteilen, um allzu grossen Schwankungen auszuweichen, und die Währung sollten sie absichern. Gerade solche Vorkehrungen haben die meisten Anleger noch nicht getroffen.

Wie beurteilen Sie die Erfolgschancen eines «Brexit»?

Für viele Briten ist es unvorstellbar, dass ihr Land aus der EU austritt. Man argumentiert, dass die Engländer doch nicht so dumm seien und am Ende die Vernunft obsiegen werde. Doch wenn ich mir in Europa den Auftrieb radikaler Parteien von links bis rechts vergegenwärtige, darf man die Erfolgschancen des «Brexit» nicht unterschätzen.

«Es herrscht ein ökonomischer Stress»

Die Befürworter profitieren vom «ökonomischen Stress», der in Euroland herrscht. Mit ihren Forderungen stossen sie so auf Gehör, während die etablierten Parteien eher den Eindruck machen, bloss am Status quo festhalten zu wollen.

Insofern befindet sich der britische Premierminister David Cameron in einer heiklen Situation.

Das kann man sagen. Es fragt sich, welche Konzessionen er in Brüssel noch vor der Abstimmung mit den übrigen EU-Staaten aushandeln kann. Um die EU-kritischen Stimmen in seinem eigenen Land zu besänftigen, müsste er den freien Personenverkehr mit der EU aufkündigen. Aber das geht natürlich nicht, weil das einem Grundprinzip der EU zuwider liefe.

«Wir können unser Land tektonisch nicht nach Osten verschieben»

Es ist auch wenig denkbar, dass er sich mit anderen Forderungen durchsetzt, ohne dass dann nicht andere Länder auch ihre Begehrlichkeiten anmelden. Ich hoffe vielmehr, dass die EU die Besorgnisse der Briten Ernst nimmt und Reformen für die gesamte Staatengemeinschaft einleitet – im Dienstleistungssektor, auf dem Arbeitsmarkt, in der Landwirtschaftspolitik.

Es gibt in der Tat viele Dinge, die in der EU nicht gut laufen. Aber sie lassen sich nur ändern, wenn man selber EU-Mitglied ist.

EU-Kritiker argumentieren, Grossbritannien könnte sich wirtschaftlich den USA, China oder anderen Vereinigungen in Übersee annähern und so erfolgreich auf Distanz zur EU gehen. Wie beurteilen Sie diese Option?

Natürlich ist niemand gegen engere Beziehungen zu Asien oder den USA, aber letztlich können wir unser Land auch nicht tektonisch nach Osten verschieben. Wir sind und bleiben eine Insel, die wirtschaftlich mit dem europäischen Kontinent eng verbunden ist.

«Die Schweiz ist keine Militärmacht, selbst wenn jeder Schweizer ein Gewehr zu Hause hat»

Hinzu kommt, dass Grossbritannien über die EU eine wesentlich stärkere Stimme in den Verhandlungen mit grossen internationalen Organisationen hat, wie der Welthandelsorganisation WTO. In einer Welt, in der man sich mit Grossmächten wie den USA und China arrangieren muss, kann eine kleine Insel im Nordatlantik im Alleingang ehrlich gesagt nicht viel ausrichten.

Von diesem Standpunkt her müsste auch die Schweiz der EU beitreten.

Ich mag den Vergleich zwischen Grossbritannien und der Schweiz nicht sonderlich, da die Schweiz eine lange Neutralitäts-Tradition hat. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass die Schweiz nicht der EU angehört und ein Grossteil der Bevölkerung auch gegen einen Beitritt ist. Die Schweiz ist weder eine Weltmacht noch im Uno-Sicherheitsrat vertreten und auch keine internationale Militärmacht, selbst wenn jeder Schweizer ein Gewehr zu Hause hat (lacht).

«In der Unabhängigkeit der Schweiz sehe ich eine langfristige Erfolgsgeschichte»

Die Schweiz schlägt sich gut in ihrer Rolle ausserhalb der EU. Natürlich würden viele Europäer die Schweiz mit offenen Armen willkommen heissen, zumal das Land viele Vorzüge hat – effiziente Behörden, eine rationale und effiziente Entscheidungsfindung, die direkte Demokratie und eine liberale Wirtschaftspolitik.

Zudem unterstützt sie die EU-Staaten in Osteuropa. Insofern wäre die Schweiz ein enormer Gewinn für die EU. Aber ich verstehe auch, dass das Schweizer Volk draussen bleiben will. In der Unabhängigkeit der Schweiz sehe ich eine langfristige und globale Erfolgsgeschichte.

Kann man zu dieser Erfolgsgeschichte auch die Schweizer Banken zählen?

Die Schweizer Finanzbranche wird inzwischen aussergewöhnlich scharf reguliert, was an sich gut ist, aber angesichts des Zinsumfelds auch eine enorme Herausforderung darstellt. Solange es der übrigen Schweizer Wirtschaft läuft, profitieren auch die Banken davon.

«Fintech stösst im Finanzbereich an Grenzen»

Was mir persönlich auffällt, wenn ich jeweils nach Zürich reise, ist die laufend höhere Zahl an Hypothekaranbietern. Das ist für mich ein Ausdruck dafür, dass dieses Geschäft zunehmend an den Banken vorbeigeht, was angesichts der verschärften Regulatorien aber nicht besonders erstaunlich ist. Insofern müssen sich die Banken fragen, was ihr Kerngeschäft in der Zukunft sein wird.

Welchen Einfluss hat in diesem Zusammenhang das Thema Fintech?

Der Vormarsch der Technologie ist für alle Branchen eine grosse Herausforderung. Firmen, die sich nicht anpassen, geraten unter Druck, werden aus dem Markt gespült. Allerdings stösst Fintech gerade im Finanzbereich, wo die Möglichkeiten vordergründig riesig sind, auch an Grenzen, und zwar dort, wo es um Vertrauen geht. Denn Vertrauen lässt sich nicht an eine Maschine delegieren.

«Vertrauen lässt sich nicht delegieren»

Mit anderen Worten: Für den persönlichen Kontakt, den es in manchen Finanzbelangen auch in Zukunft brauchen wird, gibt es keine Alternative. Insofern kann Fintech die menschliche Interaktion nicht vollständig ersetzen.

Dennoch scheinen viele Banken mit dem Strukturwandel überfordert zu sein. Wird es in Zukunft andere Finanzdienstleister geben?

Die Technologie stellt das traditionelle Bankgewerbe ganz grundsätzlich schon in Frage, zumal es immer einfacher wird, gewisse Finanztransaktionen unter Gleichgesinnten, so genannten «Peers», abzuwickeln. Die einen suchen Geld, die anderen haben Geld. Die Frage ist bloss noch, wo finden sich diese beiden Parteien? Dafür braucht es in der Tat nicht unbedingt mehr Banken.

Anders verhält es sich mit der Vermögensverwaltung, wenn jemand einer Institution Geld anvertraut. Dabei können neue Technologien nur beschränkt und unter Anleitung von Spezialisten zum Einsatz kommen. Hier kann ein «Asset Manager» seine Expertise einbringen.


Der aus Kent stammende Brite David Stubbs ist Global Market Strategist bei J.P. Morgan Asset Management. Er studierte politische Ökonomie an der London School of Economics und war in der Folge für verschiedene Finanzinstitute tätig, zudem arbeitete er bei den Vereinten Nationen in New York in der Abteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten. Auf Grund seines beruflichen Werdegangs ist er auch ein häufiger Gast bei den TV-Sendern «Bloomberg» und «CNBC».