Anlegen nach ESG-Kriterien hat vor allem angesichts des Ukraine-Kriegs weiter polarisiert. Die Kontroverse wird im Jahr 2023 heftig bleiben, wie eine Prognose in fünf Punkten von finews.ch herauskristallisiert.

Das turbulente Jahr 2022 stand auch im Zeichen grosser Vorbehalte gegenüber dem nachhaltigen Anlegen. Auf den Prüfstand gestellt wurde das am schnellsten wachsende Segment der Vermögensverwaltungsbranche vor allem mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar.

Der Angriffskrieg führte dazu, dass die Kriterien aus den Bereichen Umwelt (Environmental), Soziales (Social) und verantwortungsvolle Unternehmensführung (Governance) gegeneinander ausgespielt wurden. Dies konfrontierte Unternehmen, Investoren und Regierungen gleichermassen mit mehreren schwierigen Dilemmata beim ESG-Anlageverhalten.

Unversöhnliche Streithähne

In Europa wandten sich die Regierungen wieder ehemals geächteten fossilen Brennstoffen zu, um die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Gleichzeitig wurde der gesellschaftliche Nutzen von Rüstungsgütern mit dem Krieg völlig neu bewertet. Die Investoren wiederum begannen ihre Positionen vor dem Hintergrund von Energiesicherheit, militärischer Verteidigungsfähigkeit und Renditechancen zu überdenken.

Die Zerreissprobe wurde verstärkt durch zwei Lager, die sich unversöhnlich gegenüberstanden. Druck bauten zum einen aktivistische Investorengruppen auf, die das Konzept des nachhaltigen Anlegens rasch und kompromisslos voranpeitschen wollen. Auf der Gegenseite standen zum andern besonders in den USA rechtsgerichtete Politiker, die das ESG-Konzept als schwammigen Hokuspokus abtun, der mit dem Kartellrecht unvereinbar ist.

Die Arena ist bestimmt

Ob eines der Lager nächstes Jahr die Oberhand gewinnt oder die Debatte beigelegt wird, ist schwer vorstellbar. Es ist wie bei Feuer und Wasser, die nie zusammenkommen. Klar erkennbar ist indessen die Arena des Schlagabtausches und woran sich die Kontroverse um nachhaltiges Investieren immer wieder reibt.

1. Mangelhafte Performance

Bis zum Jahr 2030 sollen die 25 grössten europäischen und amerikanischen Banken fast 40 Prozent der gesamten Bilanzsumme oder 15 Prozent des globalen Bruttoinlandprodukts in nachhaltige Finanzprodukte investieren. Ungeachtet solcher Unsummen sind gerade bei den Renditen Enttäuschungen vorprogrammiert.

Einen Vorgeschmack liefert gemäss Kritikern das Jahr 2022. In diesem Jahr verpassten ESG-Anlagen nicht nur das Kursrally der Energietitel, sondern erlitten auch Verluste, weil sie in Technologietiteln übergewichtet sind, deren Wert stark einbüsste. Zudem ist die Risikoverteilung bei ESG-Portfolios schlechter als in einem traditionellen Portfolio, weil wegen der Konzentration auf ESG-Anlagen auf eine optimale Diversifikation verzichtet werden muss.

2. Fehlende Standardisierung

Die Schaffung einer gemeinsamen Grundlage für die ESG-Offenlegung bleibt auch 2023 und darüber hinaus eine harte Knacknuss. Die im Finanzbereich verwendete Sustainable Finance Disclosure Regulation (SFDR) der EU gilt zwar als das am weitesten entwickelte System. Diese Vorschrift soll die Transparenz darüber erhöhen, wie Finanzinstitute Nachhaltigkeitsrisiken und -chancen in ihre Investmententscheidungen und -empfehlungen integrieren.

Weil aber Produkte ausserhalb der EU anders bewertet werden, wird ein direkter Vergleich über verschiedene Finanzplätze hinweg fast unmöglich.

Diese Schwierigkeiten dürften sich nach Ansicht von Experten weiter verschärfen, da immer mehr Länder ihre eigenen Taxonomien und Klassifizierungen vorantreiben – mit einem unterschiedlichen Verständnis des Anlegerschutzes, speziellen Anforderungen und Fristen.

3. Verwirrende Herabstufungen von Artikel-9-Fonds

Mit den im März 2021 beschlossenen Sustainable Finance Disclosure Regulation (SFDR) der Europäischen Union werden Vermögensverwalter verpflichtet, in der EU verkaufte Fonds je nach Nachhaltigkeitszielen selbst als Artikel 6, 8 («grün») oder 9 («dunkelgrün») zu klassifizieren. Die ab Januar 2023 gültigen neuen technischen Standards verlangen von den Managern, dass sie in vorvertraglichen Dokumenten und regelmässigen Berichten mehr Informationen über den ESG-Ansatz, die Nachhaltigkeitsrisiken und die Auswirkungen ihrer Fonds offenlegen.

Im Vorfeld dieser verbesserten Offenlegungsregelung stuften führende Vermögensverwalter wie Amundi, Axa und NN Investment Partners ESG-Fonds mit Kundengeldern in Höhe von mehreren Milliarden Franken von der höchsten Nachhaltigkeitsstufe ab. Die Herabstufung von Artikel-9-Produkten wird sich nach Ansicht von Fachleuten so lange fortsetzen, bis die EU-Kommission die Definition einer nachhaltigen Geldanlage klarstellt.

Die vielen unterschiedlichen Interpretationen von SFDR machen laut Kritikern einen Produktvergleich hinsichtlich ihres Anteils an nachhaltigen Investments unmöglich. Dass es keinen universellen, objektiven und strengen Regulierungsrahmen für diese Art von Investitionen gibt, dürfte zu einem immer grösseren Bremsklotz werden.

4. Zynismus wegen Greenwashing

Im Mai 2022 führten deutsche Behörden eine Razzia in den Büros des Vermögensverwalters DWS und seines Mehrheitseigentümers Deutsche Bank durch, um den Vorwurf des Greenwashing zu untersuchen. Nachdem erstmals ein Vermögensverwalter im Rahmen einer ESG-Untersuchung durchsucht worden war, entwickelte sich Greenwashing schnell von einer schlechten Marketingpraxis für aufgehübschte Finanzprodukte zu einem massiven Rechtsrisiko.

Im Jahr 2023 dürften Regulierungsbehörden in vielen Ländern härter gegen Greenwashing-Praktiken vorgehen, um verlorengegangenes Vertrauen wieder herzustellen und die Anleger gegen irreführende ESG-Behauptungen zu schützen. So plant die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde die Einführung von Schwellenwerten für die Verwendung von Umwelt-, Sozial-, Governance- und Nachhaltigkeitsbegriffen in Produktnamen.

Angesichts eines um sich greifenden Zynismus machte sich bei den Vorkämpfern fürs Klima bereits ein neues Verhaltensmuster bemerkbar: das «Greenhushing». Viele Unternehmen verstummen («hush») jetzt, wenn es um ihre Klimaziele geht.

5. Polemischere Anti-ESG-Stimmung

Der Gegenwind für die Verfechter von nachhaltigem Investieren nimmt weiter zu. Die Anschuldigungen reichen von Täuschung und Ineffektivität bis hin zu einer geheimen Agenda, um dem Kapitalismus und der Gesellschaft «woke» Werte aufzuzwingen.

Besonders auffällig ist die Politisierung In den USA, wo Blackrock und sein CEO Larry Fink als Blitzableiter für beide Seiten des politischen Spektrums herhalten müssen.  So zogen Florida und andere von Republikanern kontrollierte Staaten bereits Gelder mit dem Vorwurf ab, der weltgrösste Vermögensverwalter verfolge andere Ziele als Rendite.

Der zaudernde Fink machte zwischen den beiden Seiten einer teilweise emotional aufgeladenen Debatte bisher keine gute Figur. Kaiser ohne Kleider: Diese wenig schmeichelhafte Auszeichnung verlieh ein ehemaliger Blackrock-Topmanager dem Chef des weltgrössten Asset Managers, weil er sich vor einer klaren Position in der ESG-Debatte drückte, was ihm als Heuchelei ausgelegt wurde.

Nachdem die Republikanische Partei anfangs Jahr die Kontrolle über das Repräsentantenhaus übernommen hat, könnte die Anti-ESG-Stimmung weiter um sich greifen. Vermutet wird bereits etwa ein neuer Gesetzesvorschlag, um Landwirte vor den bevorstehenden Klima-Offenlegungsregeln der US-Aufsichtsbehöre SEC zu schützen.