Der Skandal um den deutschen Wirecard-Konzern hat die Ebene des Betrugs verlassen und die Sphären der Spitzenpolitik und Geheimdienste erreicht. Im Mittelpunkt: CEO Markus Braun, verhaftet, und COO Jan Marsalek, flüchtig.
Die Münchner Staatsanwaltschaft räumte am Mittwoch nach weiteren Ermittlungen im Skandal um den deutschen DAX-Konzern Wirecard mit falschen Vermutungen auf: Der Bilanzbetrug war nicht etwa das Ergebnis der Taten von Managern, die sich ausserhalb der Kontrollen des Fintech-Konzerns bewegten.
Der Buchhaltungsbetrug – in der Wirecard-Bilanz aufgeführte 1,9 Milliarden Euro existieren nicht – sei von CEO und Grossaktionär Markus Braun bereits im Jahr 2015 beschlossen worden, um Umsätze aufzublähen und Investoren zu täuschen.
Treueschwüre auf den Anführer
Es habe ein striktes hierarchisches System geherrscht, geformt durch einen «Esprit de Corps» und Treueschwüre der Mitarbeiter auf ihren CEO und Anführer, sagte Staatsanwältin Anne Leiding vor den Medien.
Braun sitzt nun wieder in Haft, zusammen mit dem früheren CFO und seinem Buchhalter. Doch Jan Marsalek, der Chief Operating Officer und vermeintliche Chefbetrüger, ist weiterhin auf der Flucht.
Braun und Marsalek – das ist ein ungleiches Paar, das annähernd 20 Jahre lang zusammen gearbeitet hat, die letzten zehn Jahre davon an der Konzernspitze, nachdem Marsalek als 30-Jähriger COO geworden war.
Braun, Berater des Bundeskanzlers
Hier der als asketisch und brilliant beschriebene und hart arbeitende Tech-Nerd Braun, ein Doktor der Wirtschaftswissenschaften. Da der Schulabbrecher Marsalek, der nach einem Versuch als Softwareunternehmer im Jahr 2000 Wirecard-Mitarbeiter der ersten Stunde wurde, heute über ein dreistelliges Millionenvermögen verfügt, gerne Parties feiert und dabei schon mal Sushi von nackten Frauenkörpern nascht.
Die Fäden von Braun und Marsalek laufen in Wien zusammen, beide sind dort geboren. Und der Wirecard-Skandal erschüttert derzeit auch die österreichische Hauptstadt: Braun war Berater von Bundeskanzler Sebastian Kurz und ein grosszügiger Spender für dessen Partei ÖVP.
Marsalek, Spitzel der FPÖ
Marsalek wiederum soll ein Spitzel der FPÖ gewesen sein, der Zugang zu Informationen aus dem Innenministerium und Amt für Verfassungsschutz hatte. Er soll ausserdem ein Verbindungsmann zwischen der FPÖ und russischen Geschäftsleuten gewesen sein, wie österreichische Medien schreiben.
Spätestens seit bekannt geworden ist, dass Wirecard über beste Lobby-Kontakte ins deutsche Bundeskanzleramt, zum heutigen Finanzminister Olaf Scholz sowie zu Kanzlerin Angela Merkel hatte, ist aus dem Buchhaltungsskandal eine Staatsaffäre geworden.
In den Sphären der Geheimdienste
Die Historie kurz zusammengefasst: Nachdem sich ein schmuddliges deutsches Fintech-Unternehmen, das Bezahlsysteme für Pornoseiten lieferte, in die internationale Hochfinanz empor gearbeitet hat, ist es nun in den undurchsichtigen Sphären der internationalen Beziehungen und Geheimdienste angelangt.
Immer neue Enthüllungen zu dem 40-jährigen Marsalek bringen dabei Ungeheuerliches zutage. So ist die Rede von seinem Versuch, als Repräsentant des Karibik-Staates Grenada Spionagesoftware zu kaufen und wieder zu veräussern, von Spitzel-Enthüllungen in Österreich bis zu Kontakten zum russischen Geheimdienst GRU – Marsalek vermischte offenbar seine Tätigkeiten als Manager eines Bezahlungsdienstleisters mit Allüren und Aktivitäten eines James Bond.
Eine Privatarmee mit 15'000 Mann
Die «Financial Times» veröffentlichte vor einigen Tagen verstörende Recherche-Ergebnisse zu Marsalek: Er habe mit russischer Hilfe in Libyen eine 15'000 Mann starke Privatarmee aufstellen wollen, um die europäische Flüchtlingskrise zu beheben. Und weiter: Marsalek sei unter russischer Protektion in Krisen- und Kriegsgebiete in Tschetschenien und Syrien gereist.
In London habe er im Jahr 2018 Investoren und Händlern hoch geheime Dossiers der OPCW gezeigt, der Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons. Darin enthalten war eine detaillierte Analyse des Mordanschlags auf den russischen Doppelagenten Sergei Skripal und seiner Tochter im britischen Salisbury. Auch die chemische Formel für das verwendete Gift Novichok sei darin aufgeführt gewesen.
Unschuld beteuert
In welcher Rolle Marsalek jeweils aufgetreten sei – als Wirecard-Manager oder Privatmann, ausgerüstet mit Finanzen und Beziehungen – sei dabei nie ganz klar gewesen. Marsalek, so die «Financial Times», habe mehr als ein Doppelleben geführt und manchmal hätten sich seine kommerziellen und politischen Interessen mit denen als ungewöhnlicher Investor vermischt.
Gemeinsam ist Braun und Maralek wiederum: Beide beteuern ihre Unschuld. Der eine aus dem Gefängnis, der andere aus Russland, wohin er geflohen ist.