Die Coronakrise ist die Chance, auf die Europa gewartet hat. Denn sie bringe Innovation und neue Leaderfiguren hervor, schreibt die israelische Cyber-Spezialistin Shira Kaplan in einem Meinungsbeitrag auf finews.ch.

Soziale Medien und der Strom der Nachrichten der letzten Wochen haben mich davon überzeugt, dass Covid-19 für Europa eine hervorragende Chance darstellt, um im Wettlauf um Innovation einen grossen Sprung nach vorne zu machen.

Ich nehme die Stimmung in der Schweiz viel mehr als eine Zeit der Chance als als depressive Krise wahr. Es werden laufend mehr Risikokapital-Fonds gegründet; kluge Investoren wie EQT Ventures oder Lakestar, die gerade ihre Finanzierungsrunden abgeschlossen haben, sprechen über Kaufgelegenheiten und nicht über Krisen. Als Unternehmerin kann ich Ihnen versichern: Das ist fantastisch.

Jeder CEO hat es sofort begriffen

Covid-19 hat uns alle völlig unvorbereitet getroffen, sowohl Unternehmer als auch Investoren. Aber schon sehr rasch ist offensichtlich geworden, dass die Coronakrise der beste Beschleuniger der fortlaufenden Digitalisierung ist, nicht nur in Europa, sondern global. Während die Menschen zu Hause sitzen und laufend den Click-Button zu ihrem Amazon-Konto drückten, waren die einzigen Fahrzeuge auf den Strassen Zürich jene von DHL, UPS und von Swisspost, die all die bestellten Waren auslieferten.

Jeder CEO meiner Linkedin-Kontakte hat es sofort begriffen: Entweder man digitalisiert jetzt oder man geht unter. Denn die sogenannten «Brick and Mortar»-Geschäfte gehören grösstenteils der Vergangenheit an. Besonders inspirierend hierzu fand ich Georges Kern, den CEO von Breitling, wie er auf die Krise reagiert hat (Anmerkung der Red. Breitling Uhren sind erstmals auch Online käuflich).

Warum nicht so dynamisch wie Tel Aviv?

Als israelische Unternehmerin, die schon seit über zehn Jahren in der Schweiz lebt, werde ich oft zum europäischen Startup-Ökosystem befragt und wie es die Dynamik erreichen kann, die beispielsweise in Tel Aviv herrscht. Mein Antwort war immer dieselbe, egal ob in meinen Vorlesungen oder in privaten Unterhaltungen: «Sie müssen im dauernden Krisenmodus leben, wie wir es in Israel tun.» Nun, meine Damen und Herren ist die Krise nach Europa gekommen und mit ihr die Innovation.

Was Europa nun tun muss ist, das positive Momentum aufrecht erhalten. Nehmen Sie's bitte nicht persönlich, aber ich habe mich immer darüber gewundert, warum Schweizer Unternehmer so zurückhaltend und introvertiert sind: Niemand spricht über seinen Erfolg. Dem gebührt einerseits Respekt. Doch andererseits ist es jetzt an der Zeit, den Mund aufzumachen.

Man muss ehrgeiziger werden

Denn Sprechen belebt die Wirtschaft. Es ist an der Zeit, das Ökosystem zu stimulieren, über die Tätigkeiten und Aktivitäten als Investor zu sprechen, zu zeigen, dass man Startups auch in herausfordernden Zeiten weiterhin unterstützt. Denn das schafft Rückenwind für Unternehmer. Innovation geschieht nicht im stillen Kämmerlein.

Der zweite Punkt ist, dass Unternehmer global denken müssen, nicht lokal. Mein Eindruck war immer, dass Schweizer Unternehmer am liebsten Geschäfte mit Schweizer Firmen machen. Das muss sich ändern (und das tut es, während ich schreibe): Man muss ehrgeiziger werden und darüber sprechen, auch global zu verkaufen. Es ist so einfach global zu verkaufen, wenn man dazu nur ein Social-Media-Konto braucht und eine sichere Internetseite (sofern man im Software-Geschäft tätig ist).

Junge Unternehmen brauchen Zugang zu Netzwerken

Das letzte nun notwendige Element sind erfahrene Mentoren. Kluge und erfolgreiche Geschäftsleute sollten die jüngere Generation an der Hand nehmen und ihnen Zugang zu ihrem Netzwerk gewähren. Junge Unternehmer brauchen vor allem die richtigen Verbindungen. Sie verstehen die New Economy und die neuen Geschäftsmodelle bereits viel besser als die ältere Generation. Aber sie verfügen nicht über die Netzwerke, die sie in Europa und global unbedingt benötigen. Jetzt ist die Zeit da, um die junge Generation zu unterstützen, damit sie wachsen kann.

Und «last but not least» muss Europa diese Gelegenheit nutzen, um junge weibliche Leader nach vorne zu bringen. Die ersten Schritte haben wir schon vor Covid-19 in Finnland gesehen, nun muss der Rest Europas folgen.

Europa fürchtet sich weiblichen Anführerinnen

Europa fürchtet sich vor weiblichen Anführerinnen – und ich weiss nicht, was es ist. Aber es ist an der Zeit, diese Ängste loszuwerden und jungen Frauen Verantwortung zu geben, damit sie wachsen und führen können. Man muss ihnen die Chance geben und sie so begleiten, als ob sie junge Männer wären. Denn sie haben alles, was es braucht, um zu führen und zu inspirieren.

Ich muss es zugeben, dass ich zum ersten Mal in meinen zehn Jahren in Europa tatsächlich aufgeregt bin. Es geschieht etwas Gutes in Europa. Ich beginne den «Vibe» von krisengetriebener Innovation zu fühlen. Und das sind grossartige Nachrichten für Europa.


Shira Kaplan ist CEO und Mitgründerin von Cyverse, einer auf Cyber Security spezialisierten Firma in Zürich. Kaplan war in Israel als Analystin im Geheimdienst tätig. Sie hat ein MBA von der Universität St. Gallen und ist in einigen israelischen Tech- und Cyber-Security-Startups investiert.