Razzien im TGV, Überwachung der CIA, Diplomaten als Finanzplatz-Spione: Um die Schweizer Banken ranken sich wilde Gerüchte. Wer hat ein Interesse daran?
Manchmal war sogar die Ortsangabe sehr präzise: Es sei in der Nähe von Bellegarde geschehen. Dort stoppten Ende April rund 20 französische Zöllner den TGV Genf–Paris und durchsuchten den Zug nach Personen, die wie Banker aussahen. Vereinzelt hätten die Beamten iPhones und Blackberrys konfisziert. Das offensichtliche Ziel der Aktion: Vertreter des Finanzplatzes Genf – respektive dessen französische Kunden.
Die Geschichte war in den letzten Wochen oft zu hören in der Branche, und auch in der «Gerüchteküche» von finews.ch schien der Fall klar: Über vier von fünf Lesern beurteilen es als wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich, dass französische Zöllner in den Zügen nach der Schweiz gezielt nach Bankern fahnden.
«Es gab keinen solchen Vorfall»
Nun ist «Rue89» – eine sehr anerkannte Polit- und Recherche-Site in Paris – der Geschichte nachgegangen. Ihr Befund: Alles falsch. Die ganze Sache ist ein Gerücht, mehr nicht.
Die französischen Zollbehörden dementieren derartige Razzien explizit: «Das ist nicht unsere Art des Vorgehens», sagt eine Sprecherin, und weiter: «Es gab keinen solchen Vorfall.» Das Problem beginne schon damit, dass es ungewöhnlich bis unmöglich sei, einfach in den Zügen Handys zu untersuchen.
Weitere Stellen dementieren ebenfalls. Die Grenzpolizei DCPAF richtet aus, sie sei «in die Affäre nicht einbezogen», die Staatsbahnen SNCF melden: «Wir haben unsere Kondukteure danach befragt, aber keiner hat etwas gesehen.»
Damit rückt ein anderes Thema ins Zentrum: Um die Offshore-Rolle der Schweizer Banker und Vermögensverwalter ranken sich in letzter Zeit wilde Gerüchte – Gerüchte, die allerdings erhebliche Nebenwirkungen haben. So meldete die «Financial Times» Ende März, verschiedene Schweizer Banken hätten ihren Angestellten Business Trips nach Frankreich und Deutschland untersagt.
Wo sind die 21 Finanzplatz-Spione?
Die Meldung wurde nie sehr klar und eindeutig, Bankiervereinigungs-Präsident Pierre Mirabaud dementierte sie explizit, aber damit wurde (unmittelbar vor dem G-20-Gipfel) immerhin die Neben-Botschaft gestreut, dass die Schweizer Banker sich ihrer Sache gar nicht mehr sicher sind. Und unter den Bankern wiederum verstärkte sie das Gefühl, bei Auslandsreisen in Dauerverdacht zu stehen.
Weitere Storys ähnlichen Stils liessen sich anfügen: Unbekannte hängen vor den Gebäuden der Vermögensverwaltungsbanken herum! Zwielichtige Gestalten notieren sich die Autonummern von Personen, die zu Banken gehen! Der CIA kontrolliert die Reisen von Bankern!
Die klassischen Medien gerüchteln kräftig mit – die Geschichte mit der TGV-Razzia lief unter anderem durch «Figaro», «Les Echos» und «Tribune de Genève». Ein weiterer Fall: Die «NZZ am Sonntag» berichtete Anfang Mai von einer Zunahme der Spionagetätigkeit gegen den Finanzplatz Schweiz, ergänzt mit einer auf den ersten Blick erschreckenden Aussage: «Der Schweizer Geheimdienst verhängte allein letztes Jahr Einreiseverbote gegen 21 verdächtige Diplomaten.»
Diagnose: Psychose
Freilich: Die 21 Diplomaten spionierten keineswegs in den Banken – sondern die Zahl umfasste einfach alle verdächtigen Botschaftsangestellten im Jahr 2008; und in den entsprechenden Passagen des Fedpol-Jahresberichts ist keine Rede von den Banken oder vom Finanzplatz. Überhaupt sind Spionage- oder andere Aktionen gegen den Bankenplatz im ganzen Bericht kein Thema.
Offenbar braucht es den distanzierten Blick von «Rue89», um das Krankheit zu diagnostizieren: Es herrsche ein «Klima der Psychose» im Umfeld der Schweizer Finanz- und Offshore-Szene, urteilt der Nachrichtendienst. Die Frage lautet nur: Wer hat ein Interesse, solch ein Klima zu schüren? Oder konkreter: Streuen Behörden derartige Halb-Meldungen, um Schweizer Banker und deren Kunden zu verunsichern?
Aber das wäre natürlich nur ein Gerücht.