Die EU lockert die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts, Deutschland die Schuldenbremse. Damit soll der Weg frei gemacht werden für eine Wiederaufrüstung Europas.

Dass Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission, gerne mit der grossen Kelle anrichtet, ist bekannt. Am Dienstag war es wieder soweit. Sie präsentierte den Plan «ReArm Europe», der zusätzliche Mittel für Verteidigungsausgaben von 800 Milliarden Euro mobilisieren will, was immerhin 4,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) der EU entspräche.

Der Plan enthält mehrere Elemente: Mitgliedstaaten sollen künftig für Verteidigungsausgaben eine Notklausel beanspruchen dürfen, die sie von den (ohnehin schon mehrfach revidierten und abgeschwächten) Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts entbindet. Zweitens schafft die EU eine neue Darlehensfazilität über 150 Milliarden Euro primär für die Finanzierung gemeinschaftlicher Projekte und Beschaffungsvorhaben.

Auch mehr privates Kapital für die Rüstung mobilisieren

Drittens wird die Kommission eine Vorlage ausarbeiten, die es nationalen Regierungen erlaubt, ungenutzte Gelder aus dem Kohäsionsfonds rasch für (Wiederauf-)Rüstungszwecke auszugeben. Ausserdem möchte die Kommission mehr privates Kapital für die Verteidigung mobilisieren, wobei auch die Europäische Investitionsbank EIB eingespannt werden soll.

Dass hingegen Friedrich Merz, der voraussichtlich nächste deutsche Bundeskanzler, gerne gross denkt, war bisher eher weniger bekannt. Er (und mit ihm die Union) ist nun nach Sondierungsgesprächen mit seinem alternativlosen künftigen Koalitionspartner SPD (eine Partei, die für ein unbeschwertes Verhältnis zu Schulden bekannt ist) bereit, für Verteidigung und Infrastruktur die deutsche Schuldenbremse (quasi das nationale und bisher wesentlich griffigere Pendant zum Stabilitätspakt) weitgehend auszuhebeln.

Die Fiskalpolitik orientiert sich am geldpolitischen Vorbild

Merz nimmt dafür Rekurs auf Mario Draghis berühmtes Votum von 2012, mit dem es diesem gelang, die Eurokrise einzuhegen. Draghi hatte damals als Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) kundgetan, dass die EZB «im Rahmen unseres Mandats bereit» sei, «alles Notwendige zu tun, um den Euro zu erhalten», wobei er anfügte: «Und glauben Sie mir, es wird genug sein.» Nun spricht Merz mit Blick auf das deutsche und europäische militärische Sicherheitsbedürfnis von einem «Whatever-it-takes-Moment» – vielleicht auch, um sein eigenes ordnungspolitisches Gewissen zu beruhigen.

Abstimmung noch im alten Bundestag

Die Schuldenbremse soll erstens so reformiert werden, dass alle Verteidigungsausgaben, welche die Schwelle von 1 BIP-Prozent übersteigen, davon ausgenommen wären. Zweitens wird ein «Sondervermögen» (d.h. ein Schuldentopf) von 500 Milliarden Euro für Investitionen über die nächsten zehn Jahre geschaffen.

Auch die Bundesländer sollen nicht leer ausgehen. Sie erhalten vom «Sondervermögen» eine Tranche von 100 Milliarden. Die dafür nötigen Beschlüsse sollen noch vom alten Bundestag, also noch vor dem 25. März, gefällt werden, weil in diesem Union, SPD und Grüne die für eine Anpassung der Schuldenbremse erforderliche Zweidrittelmehrheit aufbringen können.

Rüstungsausgaben ohne Grenzen möglich

Das Global Research von UBS hat in einer Analyse vom Mittwoch versucht, die Folgen abzuschätzen. Die Schwellenregel werde zum einen dazu führen, dass weitere Erhöhungen der Verteidigungsausgaben erfolgen könnten, ohne die Schuldenbremse zu tangieren. Bisher war die Grossbank davon ausgegangen, dass die Folgen einer allfälligen Aufweichung der deutschen Schuldenbremse durch die europäischen Fiskalregeln limitiert würden. Diese Position muss sie nun angesichts der geplanten Aussetzung des Stabilitätspakts für Verteidigungsausgaben revidieren.

Zum anderen schaffe die Reform Raum, für die Verteidigung bestimmte Ressourcen innerhalb des Budgets für andere Zwecke auszugeben. Die UBS beziffert diesen Betrag auf 10 Milliarden Euro, die Differenz zwischen den aktuellen Rüstungsausgaben von 1,2 BIP-Prozenten und der künftigen Schwelle von 1 BIP-Prozent.

Defizit steigt, Schulden nehmen zu

Die UBS-Ökonomen gehen ausserdem davon aus, dass Deutschland die flexibleren EU-Fiskalregeln nutzen könnte, um mehr für die Infrastruktur auszugeben.

Ebenfalls eine Schnellanalyse hat die Ratingagentur Moody's vorgenommen. Steffen Dyck, Senior Vice President, spricht von «erheblichen fiskalischen Auswirkungen des Vorschlags der künftigen Koalitionspartner für die Verteidigungs- und Infrastrukturausgaben Deutschlands». Er schätzt, dass sich die Defizite bis 2026 um bis zu 2,5 Prozent des BIP ausweiten und der Schuldenstand im Verhältnis zum BIP um 5 Prozentpunkte ansteigen wird.

«Positives Signal für die Wirksamkeit der Politik»

«Ein solcher Ausgabenanstieg würde jedoch das Wirtschaftswachstum über das Jahr 2026 hinaus stützen.» Und Dyck gewinnt der Ankündigung auch eine gute Seite ab, sei sie doch «ein Hinweis auf die Fähigkeit der künftigen Regierungskoalition, eine entschlossene Politik umzusetzen», und «ein positives Signal für die Wirksamkeit der Politik».

Zumindest bezüglich der Nonchalance, mit der Probleme durch die Schaffung neuer Schulden gelöst werden, scheint der Graben zwischen Europa und den USA kleiner zu werden.