LGT-Stratege Mikio Kumada beurteilt den Reformkurs in Japan und kommt im Interview mit finews.ch zu überraschend positiven Schlüssen.
Herr Kumada, was hat Abenomics bisher gebracht?
Japans nominales Wirtschaftswachstum (NBIP) hat sich stabilisiert. Seit Amtsantritt von Premierminister Shinzo Abe 2012 wächst es in jedem Quartal im Schnitt um annualisiert rund 2 Prozent gegenüber Vorquartal, nachdem es in den vorangegangenen rund zwei Jahrzehnten stets stagniert hatte. Genau genommen schrumpfte es im Schnitt in jedem Quartal leicht.
Was hat dieses Wirtschaftswachstum für Auswirkungen?
Die Unternehmensgewinne sind insgesamt um rund ein Drittel gestiegen. Die Löhne tendieren ebenfalls leicht nach oben, in manchen Segmenten sogar deutlich. In den Städten kann man zum Teil von einem Bauboom sprechen.
«Die Statistiken der Regierung unterschätzen wahrscheinlich die Belebung der Aktivität»
Die Börsenkurse haben sich annähernd verdoppelt, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Frauenpartizipation steigt, und es gibt einen stetigen Fluss an wohldosierten Reformen.
Die Steuereinnahmen wachsen so stark, dass die Bank of Japan (BoJ) kürzlich meinte, die offiziellen Statistiken unterschätzten die tatsächliche Wirtschaftsleistung um mehrere Prozentpunkte. Richtig?
Das ist korrekt. Die offiziellen Statistiken der Regierung unterschätzen wahrscheinlich die tatsächliche Belebung der Aktivität. Die Steuereinnahmen dürften hingehen nach oben ein weniger übertriebenes Bild bieten. Gegenüber den Steuerbehörden übertreibt wohl kaum jemand mit seinem Einkommen.»
Warum gibt es dann so viele zweifelnde Stimmen?
Jahrzehntlang hat Japan seine letztlich halbherzigen Stimulierungs- und Reformversuche immer wieder frühzeitig abgebrochen. Es ist also nachvollziehbar, dass viele Marktteilnehmer misstrauisch wurden.
«Im Land selber hat sich inzwischen ein deflationäres Lebensgefühlt breit gemacht»
Viele Fachleute beschäftigen sich nicht wirklich eingehend genug mit Japan oder schreiben es aufgrund der demographischen Trends von vornherein ab. Im Land selber hat sich inzwischen ein deflationäres Lebensgefühlt breit gemacht, was durch die demographische Entwicklung zusätzlich akzentuiert wurde.
Warum sind Sie vergleichsweise so optimistisch?
Weil Inflation und damit auch die Deflation immer und überall primär geldpolitische Phänomene sind, die auch damit überwunden werden können.
Die anderen Themen wie Produktivität, Demographie, Arbeitsmarkt, Frauenbeteiligung, Marktliberalisierung stellen sicher grosse Herausforderungen dar. Sie sind mit einer angemessen inflationsfreundlichen Geldpolitik aber einfacher anzupacken.
Warum sollte Japan diesmal nicht frühzeitig aufgeben?
Weil der Aufstieg Chinas weitestgehend als existenzielle Bedrohung angesehen wird. Das ist vergleichbar mit dem Reformdruck, der mit dem Auftauchen der US-Kriegsschiffe in der Bucht von Tokio im Jahr 1853 ausgelöst wurde.
Wie ist Abenomics im wirtschaftshistorischen Kontext einzustufen?
Premierminister Korekiyo Takahashi verfolgte nach der Grossen Depression von 1929 eine ähnliche Kombination aus Geld- und Fiskalpolitik. Die Binnennachfrage kam in Schwung. Erstmals wurde nicht nur für Infrastrukturprojekte, das Militär oder den Export, sondern auch für den privaten Binnenkonsum produziert.
«Ein Happy End gab es leider nicht»
In dieser Zeit tauchen erstmals Telefonapparate, Privatautos und Motorräder aus heimischer Produktion im grösseren Umfang in den Städten auf. Ein Happy End gab es leider nicht: Takahashi suchte nämlich auch den Ausgleich mit den Westmächten und wollte die Armee und die Rüstung zügeln – und wurde 1936 von ultranationalistischen Putschisten ermordet.
Nach 1945 kaufte die BoJ mit frisch gedrucktem Geld den japanischen Banken die weitgehend wertlosen Kredite ab, die sie vor und während des Krieges den inzwischen oft komplett zerstörten Unternehmen gewährt hatten. Auch das war eine Form von «Quantitativer Lockerungspolitik».
«Für die meisten Menschen bleibt das Lohnwachstum immer noch sehr bescheiden»
Die jüngsten geldpolitischen Massnahmen der Notenbank vom September dieses Jahres, insbesondere die Fixierung der langfristigen Staatsanleihenrenditen bei 0 Prozent, werden von manchen mit der Politik der amerikanischen Federal Reserve (US-Notenbank) nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen.
Die Politik half damals den USA, den während des Zweiten Weltkrieges enorm gestiegen Schuldenstand abzubauen – ohne gleichzeitig die Wirtschaft abzuwürgen.
Welche Erwartungen wurden bisher nicht erfüllt?
Gemessen an den Verbraucherpreis-Indizes ist das Inflationsniveau nach wie vor deutlich tiefer als von der BoJ anvisiert, und in diesem Jahr gab es im Zuge der Aufwertung des Yen auch an der Börse einen grösseren Rückschlag.
«Die Regierung muss lange genug Kurs halten»
Für die meisten Menschen bleibt das Lohnwachstum aus individueller Sicht immer noch sehr bescheiden. Die Reformen wirken oft zu zaghaft.
Wie hat die Gesellschaft auf die Reformen reagiert?
Insgesamt positiv. Die Regierung muss allerdings lange genug Kurs halten. Das ist letztlich wichtiger als das Tempo. Denken sie an Deutschland in den 1990er-Jahren – es galt als der «kranke Mann Europas». Ein Jahrzehnt später hatte sich die Situation gedreht. Auch diese Veränderung hat nicht über Nacht stattgefunden.
Was wird als nächstes geschehen?
Ein wahrscheinliches Szenario sind vorgezogene Unterhauswahlen in den ersten Monaten des kommenden Jahres. Abe dürfte den seit einigen Monaten wieder spürbaren konjunkturellen und politischen Rückenwind nutzten wollen, um seine Position idealerweise bis 2021 abzusichern.
«Kurzfristig wird die BoJ wahrscheinlich noch einmal die Geldpolitik lockern müssen»
Das muss vor dem Parteitag der LDP im März 2017 geschehen. Ohne diese mittelfristige politische Perspektive werden die Märkte die Beständigkeit der japanischen Reflations- und Reformpolitik anzweifeln.
Wo besteht der grösste Handlungsbedarf aus Ihrer Sicht?
Die Politik muss vor allem glaubhaft machen, dass sie den expansiven Kurs der Geld- und Fiskalpolitik sowie der stetigen Reformen wirklich längerfristig halten wird. Es muss klar sein, dass man nicht wieder – wie in der Zeit nach Junichiro Koizumi von 2001 bis 2006, frühzeitig das Handtuch wirft und sich in internen Streitereien verzettelt.
Kurzfristig wird die BoJ wahrscheinlich noch einmal die Geldpolitik lockern müssen, sei es durch eine Senkung der gesamten Zinskurse in den negativen Bereich, oder durch die Ausweitung der Wertpapier-Käufe. Und die Regierung muss dies stärker für Investitionen und die Erhöhung der Haushaltseinkommen nutzen – das lässt sich unter dem Stichwort «Helikoptergeld» subsummieren.
Mikio Kumada ist Global Strategist der LGT. Er betrachtet ökonomische Zusammenhänge aus einer internationalen Perspektive. Als Sohn japanisch-griechischer Eltern wuchs er in Russland, Deutschland und Japan auf, studierte in Wien und arbeitete unter anderem in London und Athen.
Im Jahr 2002 stiess er zur LGT und zog 2008 nach Asien. Wenn er nicht gerade die Finanzmärkte analysiert oder kommentiert, erkundet er die zahlreichen subtropischen Wanderwege in und um Hongkong. Man kann ihm auch auf Twitter folgen unter @Mikio_Kumada.