Mit Rainer E. Gut ist am vergangenen Mittwoch, 91-jährig, ein grosser Schweizer Bankier verstorben. Wie nur wenige andere Persönlichkeiten aus der hiesigen Finanzbranche hat er das Geschehen über mehrere Jahrzehnte massgeblich mitgeprägt. Viel ist über ihn bereits geschrieben worden, gleichwohl gibt es einige Fakten, die weniger bekannt sind.


1. Karriere zuerst bei der UBS

Wenig bekannt und auch auf Wikipedia nicht erwähnt ist der Umstand, dass Gut in den 1960er-Jahren für die UBS respektive für die damalige Schweizerische Bankgesellschaft (SBG) arbeitete. Er war für den Geschäftssitz in New York verantwortlich. In jener Zeit war die SBG daran, eine Lösung für ihre problematische Beteiligung an der IG Farben zu finden.

Vor diesem Hintergrund entwickelten die beiden damals führenden SBG-Banker Alfred Schaefer und Robert Holzach eine rege Reisetätigkeit nach New York; der damals rund 30-jährige Gut war die Verbindungsperson. Die SBG konnte schliesslich eine Lösung in dieser Angelegenheit finden, doch Gut ging im Beförderungsreigen danach recht eigentlich leer aus.

Schliesslich bot ihm Holzach, sozusagen als Trostpflaster, die Position eines Direktors der Kommerzabteilung in Zürich an – zuständig für die internationale Grosskundschaft. Doch der selbstbewusste und bereits bestens vernetzte Gut lehnte dankend ab.

Er hatte bereits Grösseres im Sinn und wollte vor allem in dem ihm angestammten Finanzbereich bleiben. So zog er die Konsequenzen und heuerte 1968 bei der renommierten Investmentbank Lazard Frères an, wo er sehr viel Wissen für seine Initiativen rund um die spätere Credit Suisse First Boston (CSFB) erwarb. Der UBS blieb er im Innersten aber stets verbunden – was sich unter anderem 1996 bemerkbar machen würde (vgl. Punkt 8).

Im Jahr 1971 wechselte Gut von Lazard Frères zur Swiss American Corporation in New York, einer US-Beteiligungsfirma der damaligen SKA (Schweizerische Kreditanstalt, SKA, später Credit Suisse, CS) im Investmentbanking.

2. Aufstieg nach dem Chiasso-Skandal

Im Frühjahr 1977 erlebte die Schweizer Bankbranche ihren bis dahin grössten Skandal. Der damalige Leiter der SKA-Filiale (heute Credit Suisse) im Tessiner Grenzort Chiasso hatte über Jahre milliardenhohe Kundengelder bei einer liechtensteinischen Anstalt und deren Beteiligungsgesellschaft platziert. So konnte er seinen Kunden Garantien gewähren, die er ausserhalb der Bankbilanz verbuchte.

Dieses waghalsige und kriminelle Vorgehen führte letztlich zu einem riesigen Debakel – dem Chiasso-Skandal. Im Zuge der Aufarbeitung mussten diverse wichtige SKA-Führungsverantwortliche gehen, namentlich auch Heinz R. Wuffli (Vater des späteren UBS-Konzernchefs Peter Wuffli), der damalige Präsident der Generaldirektion, wobei sich noch herausstellen sollte, dass er nur das grösste Bauernopfer war.

Mit dem Chiasso-Skandal schlug indessen Guts Stunde, da er als einer der wenigen und jungen Führungsleute nicht in das Debakel involviert gewesen war. Er beerbte seinen Vorgänger Wuffli und stieg im Mai 1977 zum Sprecher der Generaldirektion auf, bevor der dann 1982 zu deren Präsidenten berufen wurde.

3. Antithese zum Establishment

Mit dem Aufstieg Guts an die oberste Macht der SKA geschah etwas Erstaunliches. Denn der Zentralschweizer erfüllte in keiner Weise die Anforderungen, die man zuvor in der Zürcher Traditionsbank gepflegt hatte. Gut war sozusagen die Antithese dazu: Er war Nicht-Zürcher, Nicht-Akademiker und Katholik, der weder Zünfter noch Rotarier war und deswegen auf der Chefetage oftmals geschnitten worden war.

Doch nun änderten sich die Zeiten innerhalb der SKA. Gut läutete eine neue Ära ein, internationaler und unverhohlen amerikanischer. So brach die SKA zu neuen Ufern auf. Es folgten mehrere Jahrzehnte unter der Ägide Guts, der sich dabei nicht nur zum uneingeschränkten Herrscher am Zürcher Paradeplatz entwickelte, sondern der mit einer Reihe von Verwaltungsratsmandaten auch zu einem der einflussreichsten Strippenzieher in der Schweizer Wirtschaft wurde.

4. Von der Nobelbank zur Bank für alle

Unter der Führung Guts erfolgten zunächst vor allem zwei wesentliche Veränderungen: Die SKA blies nicht nur an der PR-Front zur Offensive, indem sie 1978 etwa die «Tour de Suisse» sponserte, sondern sie wandelte sich auch von der Nobelbank für vornehme Zürcher Kreise zu einem Geldhaus, das auch den Mittelstand adressierte und so zur Retailbank mutierte, was ein wichtiger Entscheid war, um den anderen Schweizer Grossbanken Paroli zu bieten.

Gleichzeitig engagierte sich das Finanzinstitut unter der Ägide Guts zunehmend im US-Investmentbanking, einer Domäne, der Gut seit seinen Tagen bei Lazard Frères stets verbunden gewesen war. Das Resultat davon ist die Credit Suisse First Boston (CSFB), eine Investmentbank, die nach zahlreichen Transaktionen und Reorganisationen der CS zu Weltruhm hätte verhelfen sollen.

Gut verstand es zwar einige der besten Investmentbanker um sich zu scharen wie Robert Genillard, Hans-Jörg Rudloff und nicht zuletzt Oswald Grübel. Doch bis zuletzt blieb das CS-Investmentbanking eine ruinöse Angelegenheit, die letztlich auch zum Niedergang der ganzen Bank beigetragen hat.

5. Die kritische Grösse

Gut mied zumeist die mediale Öffentlichkeit; von ihm gibt es nur wenige Interviews gemessen an seiner Bedeutung und langen Amtszeit; er äusserte sich wirklich nur dann, wenn er eine Botschaft zu übermitteln hatte. Umso überraschender war es, als 2007 seine Biografie «Die kritische Grösse» erschien.

Das überaus lesenswerte Buch wurde mit grosser Zuhilfenahme des damaligen CS-Chefhistorikers Joseph Jung verfasst und lässt entsprechend zeitweilig die erforderliche inhaltliche Distanz zur Person Guts vermissen. Gleichwohl enthält das Werk eine Vielzahl von Daten und Informationen, die für die Aufarbeitung der Schweizer Bankengeschichte von grossem Wert sind.

Darin kommt Gut als geläuterter, wohlüberlegter und bereits altersmilder Mensch überaus glaubwürdig zur Geltung; allerdings ist es auch eine Tatsache, dass der Bankier stets auch seine persönlichen Ambitionen nicht aus den Augen liess und nach Macht strebte.

6. Credit Suisse First Boston als «Culture Clash»

Die CS hat es zweifelsohne im US-Investmentbanking im Vergleich zu allen anderen Schweizer Grossbanken am weitesten gebracht. Allerdings war die Entwicklung nie nachhaltig. Vielmehr mussten sich die Verantwortlichen unter Guts Führung stets dem Vorwurf stellen, mit den stabilen Erträgen aus der Vermögensverwaltung (Private Banking) die volatilen und kurzfristig ausgerichteten Geschäfte der CS-Wall-Street-Banker zu subventionieren.

Das führte zu einem Kulturkampf zwischen dies- und jenseits des Atlantiks, den die CS nie unter Kontrolle hat bringen können. Und gerade, weil das Investmentbanking von Natur her aus dem Grossen und Vollen schöpft, erwiesen sich die Fehleinschätzungen des CS-Managements als fatal.

Das war etwa bei der überdimensionalen Milliarden-Übernahme der US-Investmentbank Donaldson Lufkin & Jenrette (DLJ) im Jahr 2000 der Fall, die sich nie gerechnet hat, bis hin zu den Exzessen rund um Greensill und Archegos in den letzten Jahren vor dem endgültigen Verschwinden der CS.

7. Auf Augenhöhe mit den Amerikanern

Trotzdem hat es auch Phasen gegeben, in denen die CS und auch der gesamte Schweizer Finanzplatz von Guts amerikanischem Gespür profitiert haben. Das war beispielsweise Ende der 1990er-Jahre der Fall, als die Schweiz in die Affäre mit den «Nachrichtenlosen Vermögen» jüdischer Bankkundinnen und -kunden und deren Erben verwickelt war.

Die mehrjährigen und hart geführten Auseinandersetzungen mit der US-Justiz endeten schliesslich in einem Vergleich. Am 12. August 1998 willigten die Schweizer Banken ein, 1,25 Milliarden Franken an Holocaust-Opfer zurückzuzahlen. Neben Hans J. Bär und dem Diplomaten Thomas Borer war es vor allem Gut gewesen, der diese so wichtige Lösung für die Schweizer Banken und für die Reputation des hiesigen Finanzplatzes bewerkstelligt hatte.

8. Vergeblicher Fusionsversuch

Am 1. April 1996 unterbreitete Gut seinem Pendant bei der SBG, Nikolaus Senn, einen Fusionsvorschlag. Senn, der damals gerade in Florida in den Golfferien weilte, war völlig überrumpelt. Doch bevor Gut sein Sondierungsgespräch mit einem Brief an den Verwaltungsrat der SBG bekräftigen konnte, hatte die SBG durch gezielte Indiskretionen den Fall via «Tages-Anzeiger» an die Öffentlichkeit gebracht. Am 9. April titelte das Blatt: «CS will die Macht über die SBG».

Gut war blossgestellt – obwohl sein Vorschlag gar nicht völlig aus der Luft gegriffen war. Kurze Zeit darauf gab Gut im Sommer 1996 den Umbau der CS Holding bekannt. Erstmals entstand so in der Schweiz ein internationaler Finanzkonzern, der diesen Namen auch verdiente: die Credit Suisse Group mit vier weitgehend selbständigen Sparten: Private Banking, Asset Management, Retailbanking und Investmentbanking (CSFB).

Als eigentliches Novum galt, dass die Verantwortlichen nun in jeder Geschäftseinheit Zielvorgaben bezüglich der Eigenkapitalrendite hatten. Das war ein klarer Hinweis darauf, dass die CS einer zunehmend wichtigeren Gruppe in der Finanzwelt entsprach: den Aktionären und letztlich auch dem Schwyzer Financier Martin Ebner, der in der damaligen Zeit dem Shareholder Value in der Schweiz zum Auf- und Durchbruch verhalf.

9. Allfinanz als Fehleinschätzung

Vor dem Hintergrund der radikalen Veränderungen in der Bankbranche im Allgemeinen strebte Gut – ebenfalls in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre – eine Fusion mit dem Versicherungskonzern Winterthur an. Diese Vision entstand vor dem Hintergrund der aufkommenden Allfinanz oder Bancassurance, die darauf beruhte, dass künftig auch Banken Versicherungsprodukte anbieten würden – und umgekehrt.

So kam es im August 1997 zum Schulterschluss zwischen der CS und der Winterthur. Allerdings erwies sich der Allfinanz-Traum in der Praxis nicht als nachhaltig, zumindest in der Schweiz nicht, wo zwei gänzlich verschiedene Unternehmenskulturen aufeinanderprallten und gemeinsamen keinen Mehrwert lieferten.

Dem späteren CS-Chef Oswald Grübel war es dann in einer schwierigen Phase der notleidenden Bank auferlegt, die Winterthur wieder zu veräussern, die er schliesslich 2006 dem französischen Axa-Konzern verkaufte.

10. Hoffnung und Entsetzen über die Credit Suisse

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Rainer E. Gut und Tidjane Thiam im Frühjahr 2015 in Zürich (von links, Bild: finews.ch)

Zuletzt noch – bis in diesem Frühjahr – als Ehrenpräsident blieb Gut der CS eng verbunden; über viele Jahre hatte er auch noch ein Büro am Hauptsitz der Bank am Zürcher Paradeplatz, wo man ihn manchmal auch zum nahe gelegenen, bankeigenen Hotel Savoy Baur en Ville spazieren sah. Noch 2019 zeigte er sich im engsten Kreis sehr besorgt über die dramatische Entwicklung der Bank.

«Gut wirkt daraufhin, dass Urs Rohner (der damalige Verwaltungsratspräsident) noch vor 2021 sein Präsidentenamt abgibt», hiess es damals in Zürcher Bankenkreisen. Gut warf Rohner offenbar vor, dem Konflikt zwischen Konzernchef Tidjane Thiam und dem Vermögensverwaltungs-Chef Iqbal Khan zu lange passiv zugeschaut zu haben. Anschliessend habe Rohner nicht vermittelt, sondern Khan den Übergang zum Konkurrenten UBS massiv erleichtert und damit den CEO übergangen.

Die Dimension dieser Besorgnis ist insofern bemerkenswert, da Gut bei der Ernennung Thiams im Frühjahr 2015 ihm überraschend seine Aufwartung an der Medienkonferenz in Zürch gemacht hatte (Bild oben). Zwischen den beiden Persönlichkeiten war eine grosse Bewunderung spürbar, die Gut auch mit viel Hoffnung verband – die sich allerdings nicht erfüllte. Der Rest ist Geschichte.