Am Ende der ersten Prozesswoche plädierte der Anwalt von Beat Stocker. Die Verteidigung des Vertrauten von Pierin Vincenz lehnte sich überraschend stark an jener von Pierin Vincenz an. Das folgt einer Strategie.
Rechtsanwalt Andreas Blattmann hat es nicht leicht. Der Verteidiger von Beat Stocker, neben Pierin Vincenz der zweite Hauptbeschuldigte vor dem Zürcher Bezirksgericht, muss sein Plädoyer nach wenigen Stunden unterbrechen – und darf die Fortsetzung erst Anfang März liefern. Dann geht der Vincenz-Prozess in die zweite Runde.
Blattmann machte dies mit Verve wett. Er sei schockiert über die Nonchalance der Anklage, über den unpräzisen Umgang mit Sachverhalten und die dogmatische Auslegung von Recht, erklärte der Verteidiger am (heutigen) Freitag Nachmittag.
Freispruch gefordert
Er forderte eine vollumfänglichen Freispruch für Stocker, eine Genugtuung für den Beschuldigten und die Entschädigung der Gerichtskosten durch den Staat. Ebenfalls seien Zivilklagen abzuweisen.
Stocker wie Vincenz wird von der Anklage vorgeworfen, bei diversen Firmentransaktionen Schattenbeteiligungen aufgebaut und in die eigene Tasche gewirtschaftet zu haben.
Unternehmer mit Visionen?
Die Staatsanwaltschaft sieht dahinter System: Stocker habe als «Hirn» der Operationen das Doppelspiel zu Lasten von Raiffeisen Schweiz sowie von Unternehmen der damaligen Aduno-Gruppe perfektioniert.
Für Blattmann ist das eine reine Interpretation der Kläger. Den «konspirativen Modus operandi» gebe es nicht, sondern nur die Vision des Unternehmers Stockers, der als Privatmann ein beträchtliches Risiko bei Firmenbeteiligungen eingegangen sei. Der Anwalt versuchte deshalb besonders vehement, dem Vorwurf der Konspiration entgegenzutreten.
Strittige Interpretation
Im Fall der Firma Commtrain, die 2007 von der Aduno-Tochter Viseca übernommen worden war, wirkte Stocker allerdings auch als Verwaltungsrat von Viseca, während der amtierende Raiffeisen-Chef Vincenz sich ebenfalls privat an Commtrain beteiligte.
Für die Staatsanwaltschaft ist der Fall Commtrain wegen den Einflussmöglichkeiten der beiden Beschuldigten besonders wichtig. Für Stocker wie für Vincenz gilt die Unschuldsvermutung.
Nach Gutdünken interpretiert
Die Anklageschrift lese sich zwar spannend, befand Blattmann weiter. Sie habe aber nur Ansatzweise mit der Wahrheit zu tun – die Staatsanwaltschaft habe Chats und E-Mails nach Gutdünken interpretiert.
Diese Korrespondenz sei dabei immer so verstanden worden, dass sie zum jeweiligen Vorwurf passte. Der Anwalt Stockers unternahm es im folgenden, die Chats und Mails höchst detaillierte in den – aus seiner Sicht gültigen – Kontext zu stellen.
Schaden und Schwenker
Bei der rechtlichen Wertung folgte Blattman ganz der Linie von Lorenz Erni. Der Verteidiger Vincenz’ hatte zuvor plädiert und der Staatsanwaltschaft einen «Schwenker» vorgeworfen, wie auch finews.ch berichtete.
Weil die Kläger den bei Aduno und Raiffeisen entstandenen Schaden schwer beweisen könnten, sagen Erni wie Blattmann, hätten die Staatsanwälte ein Bundesgerichts-Urteil von 2018 zu Retrozessionen herangezogen.
Juristisches Neuland
Demzufolge hätten Vincenz und Stocker ihre Beteiligungs-Gewinne an die Unternehmen, als deren Organe sie wirkten, herausgeben müssen. In der Anwendung des Urteils auf die Firmentransaktionen hat die Anklage juristisches Neuland betreten, zumal die eingeklagten Vorkommnisse zwischen 2006 und 2017 liegen, also vor dem Bundesgerichts-Entscheid.
Allerdings beziffern die Kläger sehr wohl einen Schaden von rund 25 Millionen Franken, den sie bei Vincenz und Stocker abschöpfen wollen.
Gemeinsam stärker
In den bisherigen Plädoyers ist aufgefallen, dass die Verteidiger regelmässig aufeinander verwiesen haben und derselben rechtlichen Stossrichtung folgen. Die scheinbare Koordination macht aus Sicht der Beklagten durchaus Sinn: Wenn die Hauptlinie der Staatsanwalt im Vorwurf eines konspirativen Systems zulasten von Raiffeisen und der Aduno-Gruppe liegt, dann lässt sich diese am besten gemeinsam entkräften.
Und wenn die Vorwürfe gegen Vincenz und Stocker in sich zusammenfallen sollten, erweist sich auch die Bezichtigung der Gehilfenschaft gegen weitere Beschuldigte als gegenstandslos.