Rehabilitierung der Rüstungsindustrie schreitet zügig voran
Der «globale Finanzinnovator» Wisdom Tree lanciert Produkte auf europäische Rüstungsunternehmen, die in der Anlagewelt lange ein Dasein in der «Schmuddelecke» fristeten. Die Renaissance von Kriegsmaterialherstellern hat sich allerdings schon länger abgezeichnet. Und die Debatte darüber, ob diese Branche das Prädikat «nachhaltig» verdient, ist wieder voll entbrannt. Eine Spurensuche in der ESG-Industrie.
Normalerweise verzichtet finews.ch darauf, die Neulancierung eines Exchange Traded Funds (ETF) an der SIX Swiss Exchange (SIX) zu vermelden. Doch diesmal ist eine Ausnahme gerechtfertigt, weil sich hinter dem Finanzprodukt ein längere Geschichte verbirgt. Am Mittwoch hat der Asset Manager Wisdom Tree an der SIX einen ETF (WDEF) auf Aktien von europäischen Rüstungsherstellern kotiert.
Der am 11. März lancierte ETF wird bereits an anderen europäischen Börsen gehandelt und weist ein Gewicht von über 1 Milliarde Dollar auf. Der zugrundeliegende (proprietäre) Index soll die Wertentwicklung europäischer Unternehmen in der Rüstungsindustrie abbilden, zu der auch Hersteller von sogenannten ziviler Verteidigungsausrüstung, Bauteilen oder Produkten, Verteidigungselektronik und Ausrüstung für die Weltraumverteidigung gehören.
«Wachsende Nachfrage von Schweizer Anlegern»
Adrià Beso, Vertriebschef Europa bei WisdomTree, erklärt in der entsprechenden Medienmitteilung: «Da Regierungen ihre Verteidigungsstrategien neu bewerten und einheimischen Kapazitäten Vorrang einräumen, verzeichnen wir ein starkes Interesse der Anleger an effizienten Möglichkeiten, an diesem Thema zu partizipieren. Mit der Notierung an der SIX können wir die wachsende Nachfrage von Schweizer Anlegern bedienen und unser Engagement für Investoren in der Region verstärken.»
Dass das wachsende Anlegerinteresse mit der überdurchschnittlichen Performance von Rüstungsaktien korreliert sein dürfte, wird dabei nicht explizit erwähnt.
Vor wenigen Monaten wäre es noch undenkbar gewesen, dass etablierte ETF-Anbieter so offensiv für Rüstungsaktien werben. Vielmehr war es das erklärte Ziel der Branche, sich als möglichst «nachhaltig» zu präsentieren, also vor allem diejenigen Produkte ins Schaufenster zu stellen, bei denen der Basiswert (Aktien, Obligationen und weitere Assets) bestimmten Kriterien bezüglich Ökologie (Environmental), Soziales (Social) und Unternehmensführung (Governance) oder kurz ESG genügt.
Ein bisschen ESG-Firnis muss doch noch sein
Und bis vor kurzem galt ein breiter Konsens, dass Aktien und andere Finanzinstrumente von Unternehmen, die ihr Geld mit der Produktion von Kriegsmaterial verdienen, keinen Platz im ESG-Universum haben. Entsprechend fanden sich ihre Namen auf Ausschlusslisten, in schlechter Gesellschaft mit anderen «hoffnungslosen» Fällen wie Kohle-, Alkohol- oder Tabakunternehmen.
Ein bisschen ESG-Firnis muss aber auch heute noch sein. Gemäss Wisdom Tree «versucht der Index, Unternehmen auszuschliessen, die an umstrittenen, nach dem Völkerrecht verbotenen Waffen wie Streumunition, Antipersonenminen, biologischen und chemischen Waffen sowie Waffen mit abgereichertem Uran und weissem Phosphor beteiligt sind».
Angriff auf die Ukraine erschüttert alte Gewissheiten
Die Gewissheit, dass Rüstungsaktien per se nicht nachhaltig sein können, wurde ein erstes Mal mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2022 erschüttert. finews.ch zitierte damals Hendrik du Toit, Geschäftsführer von Ninety One Asset Management, mit den Worten: «Ich würde mir Sorgen machen, dass sich die Rüstungsindustrie durch die Hintertür einschleicht.»
Erwähnung fand aber auch folgende, in die andere Richtung gehende Analystennotiz von Citigroup, die sich im Nachhinein als hellsichtig erwies: «Verteidigung wird wahrscheinlich zunehmend als eine Notwendigkeit angesehen, die ESG als Unternehmen sowie die Aufrechterhaltung von Frieden, Stabilität und anderen sozialen Gütern erleichtert.»
Befehlsausgabe des SBVg-Präsidenten: Schweiz muss wieder wehrfähig werden
In der Folge kühlte die Debatte wieder etwas ab: Die meisten Anbieter entschieden sich dazu, am Status quo festzuhalten, im Allgemeinen Rüstungsunternehmen zu ächten und ihnen im Besonderen weiterhin keinen Zutritt zum ESG-Universum zu gewähren.
Im letzten Herbst allerdings lebte die Kontroverse wieder auf. Am Bankiertag im September 2024 schlug nämlich der Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung (SBVg), Marcel Rohner, ungewohnt martialische Töne an. Er kritisierte, dass die Schweiz ihre Verteidigungsfähigkeit eingebüsst habe, und plädierte für den (Wieder-)Aufbau einer starken und glaubwürdigen Armee.
Wie halten es die Banken mit der Schweizer Rüstungsindustrie?
Als in der Folge in einem Zeitungsbericht die Schweizer Rüstungsindustrie monierte, es werde für sie immer schwieriger, mit Schweizer Banken Geschäfte abzuschliessen und Konten zu eröffnen, sah sich die SBVg zu einer recht ausgewogenen Stellungnahme veranlasst.
Sie hielt darin u.a. fest, dass die Rüstungsindustrie eine Bandbreite von Produkten und Dienstleistungen anbiete und die Thematik «eine entsprechende Sensibilisierung auf Stufe Einzelkunde» bedinge. «Gleichzeitig muss berücksichtigt werden, dass die bestehende ESG-Regulierung wenig Individualität auf Einzelkundenstufe zulässt. Die SBVg befürwortet eine differenzierte und individualisierte Beurteilung entlang der regulatorischen Vorgaben.»
Neue Doktrin der US-Regierung, Rüstungsoffensive in Deutschland und in der EU
Voll entflammt ist die Debatte im März dieses Jahres. Ausschlaggebend dafür dürften das ruppige Verhalten der neuen US-Regierung gegenüber der Ukraine und anderen Verbündeten gewesen sein, sowie der Entscheid der künftigen Regierungskoalition in Deutschland, die Rüstungsausgaben massiv zu erhöhen (und dafür die Schuldenbremse auszuhebeln), samt der begleitenden EU-Wiederaufrüstungsoffensive.
Diese Zeichen der Zeit hat auch Wisdom Tree erkannt, der sich selber allgemein als «globaler Finanzinnovator» und in diesem Fall auch als «Erstanbieter» bezeichnet, «mit dem ersten ETF, der wirklich Zugang zum europäischen Verteidigungssektor bietet». Mit dem Plan ReArm Europe (der heute allerdings offiziell «ReArm Europe Plan/Readiness 2030» heisst) setze das traditionell von US-Rüstungsunternehmen abhängige Europa nun auf eigene Kompetenzen, lenke das Kapital im Verteidigungsbereich zurück zu heimischen Unternehmen, fördere Innovation und stärke die industrielle Basis Europas.
Ob sich die Marketingabteilung dessen bewusst war, dass sich in diesem Satz starke Anklänge an die neue Industriepolitik von US-Präsident Donald Trump finden? Man könnte es fast als feine Ironie der Geschichte auslegen, dass die EU als Reaktion auf den Auslöser Trump ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legt wie dieser selbst.
Gefallenes Tabu, verflossene Flitterwochen
Zurück zu ESG und Verteidigung: Erst Ende März hatte der Chefredaktor von finews.ch die Frage gestellt, ob nun im ESG-Bereich das «Rüstungs-Tabu» falle.
Er konstatierte in seinem Kommentar auch, dass der «Honeymoon» für ESG vorbei sei. Tatsächlich kämpfen die Akteure im Segment der nachhaltigen Anlagen seit einiger Zeit mit viel Gegenwind von verschiedenen Fronten. Daher ist es nicht überraschend, dass in der Branche ein Bereinigungsprozess im Gang ist.
Viel Gegenwind für die ESG-Industrie
Die früher üppig sprudelnden Neugeldzuflüsse in ESG-Produkte sind versiegt, Banken und Versicherungen ziehen sich aus Klima-Allianzen zurück, und Unternehmen stampfen ihre Diversitätsprogramme (die zuvor als integraler Bestandteil des G galten) ein. Und wer Interviews mit Asset Managers führt, die früher nicht genug von ihrem tollen Angebot an ESG-Anlagelösungen schwärmen konnten, macht die neue Erfahrung, dass es sich dabei um einen «sensitiven Bereich» handelt, bei dem jedes Wort auf die Goldwaage gelegt wird.
Wer nun davon ausgeht, dass in der ESG-Industrie bald alle Lichter gelöscht werden, könnte sich jedoch täuschen. Denn die Akteure haben sich immer wieder als sehr anpassungsfähig erwiesen.
Man kann darauf setzen, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis andere ETF-Häuser – vielleicht sogar mit explizit nachhaltigen Lösungen – dem Beispiel von Wisdom Tree folgen werden. Mit einem dreimal gehebelten Exchange Traded Product (ETP) auf den Stoxx Europe Total Market Aerospace & Defense Net Total Return Index hat dieser im April das Tempo nochmals verschärft.
Parallelen zur Debatte um die Nachhaltigkeit der Atomenergie
Rüstungsunternehmen werden nicht mehr automatisch in die Schmuddelecke verbannt. Ob sie bald auch ein explizites Nachhaltigkeitssiegel erhalten, ist offen. Denn es gibt auch Stimmen wie die des Liechtensteiner Bankers Patrick Kindle. In einem Interview mit finews.ch hielt er diesen April unverdrossen an der Auffassung fest, dass Rüstungsaktien nichts in nachhaltigen Fonds verloren haben.
Die Kontroverse wird weitergehen, der Ausgang ist offen. Sie erinnert an die in der Energiekrise scharf geführte Debatte, ob die Industrie zur zivilen Nutzung der Atomkraft nachhaltig sein kann oder nicht. Die EU-Taxonomie hat in dieser Frage einen relativ pragmatischen Ansatz gewählt, der aber lange nicht alle Akteure überzeugt hat.