Banker wurde Herbert Scheidt eher zufällig. Inzwischen ist er vierzig Jahre in der Finanzbranche tätig und hat die Zürcher Traditionsbank Vontobel massgeblich und sehr erfolgreich geprägt. Trotzdem gibt es Dinge, die er bedauert, wie er im Interview mit finews.ch bekennt.
Herr Scheidt, was wäre der Titel Ihrer Biografie nach bald 40 Jahren im Bankwesen?
Wahrscheinlich, die Frage, was macht Karrieren aus? Ich habe mich häufig gefragt, wer kommt warum in eine bestimmte Position. Was hat die Person da hingebracht? War einiges auch zufällig? Haben wir die richtigen Leader? Orientieren sie sich an der Sache oder an sich selbst?
Das ist ein Thema, bei dem ich mir durchaus vorstellen könnte, etwas darüber zu schreiben.
Ist es einsam an der Spitze?
Ja. Unterm Strich ist man mit den Problemen allein. Ich habe zumeist versucht, diese Einsamkeit an Wochenenden in den Bergen mit meiner Frau zu überkommen. Sie hat zugehört, Fragen gestellt; so habe ich viele Themen, über die man überhaupt mit Dritten reden darf, verarbeitet und kam zu Lösungen. Als Verwaltungsratspräsident fühlt man meines Erachtens weniger allein. Man steht mehr in einen einvernehmlichen Dialog.
Als CEO ist man einsamer?
Der CEO steht immer vor aktuell zu fällenden Entscheiden. Er hat die ultimative Verantwortung. Er muss im täglichen Geschäft sanktionieren – positiv wie negativ. All das liegt im Ermessen des CEO – nicht beim Verwaltungsrat.
Sie haben gesagt, dass es in manchen Karrieren auch Zufälligkeiten gab. Sind Sie selber zufällig ins Banking geraten?
Eigentlich schon. Ich habe in Sussex in Grossbritannien studiert, am Institute of Development Studies, das heute noch bekannt ist als Wissenschaftsstandort für Entwicklungspolitik. Nach meinem Master bin ich zur Welternährungsorganisation FAO nach Rom gegangen. Das war mein erster Job, als Assistent des Generaldirektors, 1979. Es war enorm spannend. Ich reiste unter anderem mit der ersten Uno-Delegation nach China.
«Das war eine andere Zeit mit anderen Massstäben»
Als die US-Regierung in den 1980er-Jahren die Uno-Gelder sperrte und damit die Projekte weniger wurden, kehrte ich ins Ruhrgebiet, wo meine Familie herkommt, zurück. In Essen bewarb ich mich bei der Deutschen Bank als Trainee, weil ich glaubte, so am schnellsten weiterzukommen, um wieder mit entwicklungspolitischen Themenstellungen zu arbeiten. Bei der Deutschen Bank hiess es damals: Sie sind zwar ein ziemlich bunter Paradiesvogel. Aber wir probieren es mal mit Ihnen.
Bei der Deutschen Bank sind Sie 20 Jahre geblieben.
Ja, zunächst arbeitete ich im Investmentbanking in Frankfurt, New York und Mailand. Das war in den 1990er-Jahren, eine faszinierende Zeit, weil sich am Kapitalmarkt mit den vielen neuen Finanzinstrumenten eine Revolution vollzog. Nach zehn Jahren wollte ich etwas anderes machen und wechselte in die Vermögensverwaltung, was mich 1996 nach Genf brachte, Dort übernahm ich die Verantwortung für das internationale Wealth Management der Deutschen Bank.
Da herrschten noch goldene Zeiten mit dem Bankgeheimnis und den Offshore-Kunden aus aller Welt.
Absolut, das war eine andere Zeit mit anderen Massstäben. Aber die Veränderung wurde sichtbar. So kam es Mitte der 1990er Jahre zu einer ersten Razzia in Luxemburg, bei der die Staatsanwaltschaft die Büros der Deutschen Bank wegen Offshore-Kundenbeziehungen durchsuchte und Akten beschlagnahmte. Das ging mir sehr tief. Damals wurde für mich klar, dass das Schweizer Bankgeheimnis in dieser Form nicht mehr lange bestehen wird.
«Ich schlug Frankfurt vor, die Deutsche Bank Schweiz an die Börse zu bringen»
Rückblickend muss ich sagen, dass wir es in der Schweiz, und damit meine ich die ganze Branche und das Land, versäumt haben, dieses Thema rechtzeitig anzugehen. Der frühere Nationalbank-Präsident Philipp Hildebrand hat einmal richtig gesagt, alle hätten um dieses Goldene Kalb herumgetanzt.
Das Goldene Kalb war das Bankgeheimnis, das allerdings viel Geld in die Schweiz brachte.
Es war tatsächlich so, dass in den Köpfen vieler die Vorstellung vorherrschte, dass man das Offshore-Geschäft problemlos immer weiter so betreiben kann. Das Bankgeheimnis war ein nationales, systemisches Differenzierungsmerkmal. Man hätte jedoch die Zeichen der Zeit schon in den 1990er-Jahre erkennen können, als die Kontroverse um die Nachrichtenlosen Vermögen losbrach. Damals hat die Weltgemeinschaft begonnen, sich daran zu stören, wie die Schweiz Geschäfte machte.
Im Jahr 2002 wechselten Sie von der Deutschen Bank ausgerechnet zu einer klassischen Schweizer Privatbank. Warum?
Im internationalen Vermögensverwaltungsgeschäft und in der Schweiz hatte ich mein Zuhause gefunden. Und ich schlug Frankfurt sogar vor, die Deutsche Bank Schweiz teilweise zu «floaten» und an die Börse zu bringen. Ich bin heute noch davon überzeugt, dass das die Deutsche Bank Schweiz damals viel mehr wert war als man in der Zentrale annahm.
Warum konnten Sie sich nicht durchsetzen?
Das war die Zeit, als das Investmentbanking immer dominierender wurde, während die Vermögensverwaltung insbesondere aus der Schweiz heraus zunehmend als Vertriebskanal für die Finanzprodukte aus dem Investmentbanking diente.
«Damals war der Name Vontobel tatsächlich besser als das, was drin war»
So nahm die Gefahr immer mehr zu, dass wir unsere treuhänderische Verantwortung gegenüber unseren Kunden immer weniger wahrnehmen konnten, und wir sahen innerhalb der Deutschen Bank keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr. Zu jener Zeit kam das Angebot, bei Vontobel CEO zu werden. Ich habe mir gesagt, das mach ich mal.
Sie stiessen in einer höchst schwierigen Zeit zu Vontobel. Nach den Exzessen in der Dotcom-Blase war die Bank am Boden. Wie haben Sie sich zurechtgefunden?
Damals war der Name Vontobel tatsächlich besser als das, was drin war. Das Jahr 2002 schlossen wir mit einer schwarzen Null ab. Der Aktienkurs notierte bei 13 Franken (heute: 75 Franken). Es war ein recht grosses Kuddelmuddel.
Bei meinem ersten Auftritt vor dem Verwaltungsrat habe ich dem Gremium gesagt, unsere Organisationsstruktur sieht aus, als ob ein Huhn in ein Tintenfass gefallen ist und jetzt über ein weisses Blatt läuft. So haben wir die gesamte Organisationsstruktur verändert, drei klare Bereiche geschaffen und überall eine eindeutige Führung bestimmt.
Wie haben Sie den Doyen des Hauses, Hans Vontobel, erlebt?
Wenn man von einem multinationalen Konzern mit anonymen Aktionären zu einer Bank wechselt, wo man plötzlich dem Hauptaktionär gegenübersitzt, dann ist das etwas Besonderes. Die Verantwortung wird damit regelrecht personifiziert. Gleichzeitig stellt man sich so auch fortdauernd die Frage, sind die Risiken, die man eingeht, verantwortbar gegenüber der Familie, deren Name über der Tür steht? Es wächst eine gute Risikokultur heran, die dann alle Mitarbeitenden verinnerlicht haben.
Nächstes Jahr treten Sie als Verwaltungsratspräsident nach insgesamt 20 Jahren bei Vontobel zurück. Was waren die Meilensteine in dieser Zeit?
Als ich 2002 zu Vontobel stiess, war das Thema Bankdaten-Diebstahl in Liechtenstein akut. Die deutschen Behörden hatten Postchef Klaus Zumwinkel wegen Steuerhinterziehung medienwirksam verhaftet. Als frischgebackener CEO habe ich sogleich Druck gemacht, dass wir uns von nicht akzeptablen Offshore-Kunden trennen. Es brauchte allerdings viel Zeit, bis das richtig in die Köpfe eingesunken war.
Warum, das Problem war ja klar?
Viele Kunden waren gar nicht bereit, die wachsende Bedrohung einzusehen. Und wir mussten auch das Bewusstsein für die neue Welt bei den Kundeberatern schaffen in einer Zeit, als alle noch dachten, dass es immer so weitergehen kann. Beide zu gewinnen, also Kundenberater und Kunden, war nicht einfach. Auch die IT war damals noch nicht so ausgefeilt wie heute, dass man auf Knopfdruck beispielsweise alle US-Kundendaten einsehen kann.
«Wir standen damals ja nicht besonders glänzend da»
Wir haben alles bereinigt und beschlossen, eine Geschäftseinheit, die von der US-Börsenaufsicht lizenziert ist, zu gründen; was wir 2009 auch getan haben. Damit waren wir früh dran, was uns wiederum half, dass wir im US-Steuerstreit im Gegensatz zu vielen anderen Schweizer Banken keine Busse bezahlen mussten.
Mit den Raiffeisen-Genossenschaftsbanken bestand eine enge Zusammenarbeit im Asset Management, die in einen Konflikt drehte, der bis vor Gericht ging. Wie haben Sie den früheren Raiffeisen-CEO Pierin Vincenz in Erinnerung?
Die Zusammenarbeit mit Raiffeisen im Vertrieb von Finanzprodukten bestand bereits seit Mitte der 1990er-Jahre und war erfolgreich. In den Jahren 2002 und 2003 hat Pierin Vincenz überlegt, wie er die Situation von Vontobel zu seinen Gunsten nutzen konnte. Wir standen damals ja nicht besonders glänzend da. So beteiligte sich Raiffeisen an der Bank Vontobel. Das «Rumpeln» in dieser Beziehung entstand, als Pierin Vincenz seine Wunschvorstellung nicht so verwirklichen konnte, wie er sich das vielleicht erhofft hatte.
Was führte er im Schilde?
Ihm schwebte eine Ménage-à-trois vor. Neben Vontobel wollte er auch die Basler Bank Sarasin ins Boot bringen und über unsere Köpfe hinweg die drei Unternehmen fusionieren. Das war nie unsere Absicht, so dass sich unsere Zusammenarbeit eintrübte.
In der Konsolidierung auf dem Schweizer Finanzplatz musste sich Vontobel regelmässig den Vorwurf gefallen lassen, abseits zu stehen. Warum war das so?
Unsere Devise lautete stets, auf der Basis eines starken organischen Wachstums zu akquirieren. Wir haben alle möglichen Übernahmeziele angeschaut. Unsere Zögerlichkeit hing aber auch mit meinen Erfahrungen bei der Deutschen Bank zusammen.
Inwiefern?
Die Deutsche Bank übernahm 1998 den amerikanischen Bankers Trust für zig Milliarden Dollar. Ich war in der Zeit in der Schweiz für die Integration des internationalen Wealth-Management-Geschäfts von Bankers Trust zuständig. Dieses Geschäft entpuppte sich für uns als Desaster. Wir haben uns wirklich bemüht, für unsere Kunden und die Bank Werte aus dem Merger zu schaffen, aber das war alles Schall und Rauch. Darum habe ich später immer gesagt, eine Akquisition muss passen.
«Bedauert habe ich, dass wir die Privatbank Notenstein La Roche nicht früher übernommen haben»
In den 2000er-Jahren war eine Zeit lang alles sehr teuer. Gepasst hat es dann unter anderem beim Schweizgeschäft der Commerzbank sowie beim britischen Asset Manager TwentyFour Asset Management sowie bei der Finter Bank.
Bedauert habe ich, dass wir die Privatbank Notenstein La Roche nicht früher übernommen haben. Wir hatten bereits ihr Osteuropa-Geschäft und die Tochtergesellschaft Vescor akquiriert, alles scheibchenweise, anstatt dass wir zumindest im Wealth Management alles auf einen Schlag frühzeitiger hätten übernommen können.
Im Gegensatz zu manchen anderen Schweizer Banken haben Sie auch Asien lange Zeit stiefmütterlich behandelt. Warum?
Asien ist zweifelsohne eine der wichtigsten Wachstumsregionen auf der Welt. Wir haben allerdings immer gesagt, dass wir uns nicht mit den lokalen Häusern messen wollen. Vielmehr verstehen wir uns als Anlaufstelle für asiatische Kunden, die einen Teil ihres Vermögens offiziell in der Schweiz verwaltet haben wollen.
Das machen wir teilweise direkt oder über Partnerschaften, wie mit der Bank of Singapore. Das ganze Thema mit den Partnerschaften wollen wir noch verfeinern. Wir haben festgestellt, dass es viele grosse Finanzinstitutionen gibt, die aufgrund der Tief- und Negativzinsen rentable Anlageprodukte brauchen, die sie nicht in ihrem Hause produzieren wollen oder können. Sie sind daher interessiert an Partnern, mit denen sie nicht in Konkurrenz stehen. Hier sehen wir als spezialisierter Asset Manager und «Bank for Banks» grosse Chancen in unserer Wachstumsstrategie, vor allem in Asien, aber auch anderswo.
Ende 2019 haben Sie Vontobel reorganisiert. Die Bank galt dann plötzlich als Investmenthaus, was viele Leute bis heute nicht verstehen. Was war der Zweck dieser Übung?
In einer Welt, in der sich aufgrund der Digitalisierung gesellschaftlich und wirtschaftlich so vieles verändert, mussten wir reagieren. Die Kundschaft erwartet von den Banken heute einen Service, wie sie ihn von Firmen wie Amazon oder Apple erhält. Der Kunde kommt heute nicht mehr in die Schweiz wegen dem Bankgeheimnis, sondern weil er erstklassige Investmentlösungen sucht. Investments sind für eine Bank das, was der Motor für Mercedes ist.
«Ich habe einige Pläne»
Das wiederum setzt voraus, dass wir uns kundenzentriert digital und datengetrieben aufstellen müssen. Dabei reicht es nicht, wenn nur der Kundenberater so denkt. Das muss sich durch die gesamte Organisation ziehen. Nur so können wir relevant bleiben für unsere Kundschaft. Das sagt sich leicht, aber um aus den bestehenden Strukturen herauszukommen und transversal – also übergreifend – zu denken, braucht es einiges an Überzeugungskraft und Übung. Vontobel ist heute ein leistungsstarker Investmentmotor, der die verschiedenen Vertriebskanäle gemäss den Kundenbedürfnissen unterstützt – mit unserer digitalen Kompetenz.
Mit anderen Worten, Vontobel ist keine Bank mehr.
Solange man Kundengelder hält, ist man per Definition eine Bank. Aber vom System her gebe ich Ihnen Recht. Wir sind eine Investment-Tech-Gesellschaft.
Am morgigen Dienstag leiten Sie die (virtuelle) Generalversammlung 2021 von Vontobel. Danach sind Sie dann noch zwölf Monate im Amt. Ihr Nachfolger ist bereits bestimmt. Sind Sie bloss noch eine «lame duck», wie es im Englischen heisst, also eine «lahme Ente»?
Ich werde genauso weiterarbeiten wie bisher. 2020 war das erste volle Jahr nach der Neuaufstellung, das ausgerechnet mit Corona zusammenfiel. Insofern gibt es noch eine Menge zu tun. Ich werde den CEO und sein Team begleiten und natürlich meinen potentiellen Nachfolger Andreas Utermann intensiv einarbeiten.
Danach treten Sie kürzer?
Ich habe einige Pläne. Doch vorerst widme ich mich noch ganz meiner Aufgabe bei Vontobel. Sicherlich werde ich danach einen Teil meiner Zeit in der Toskana verbringen, so dass sich der Kreis mit meiner früheren Zeit in Italien schliesst.
Sie wollen auswandern?
Nein, mein Lebensmittelpunkt bleibt die Schweiz, wo ich seit 25 Jahren lebe. Selbst wenn ich den Dialekt nicht spreche, im Herzen bin ich längst Schweizer.
Herbert J. Scheidt ist seit 2011 Präsident des Verwaltungsrats der Zürcher Vontobel Holding. Er stiess 2002 zum Unternehmen und war zunächst dessen CEO. Er verfügt über einen Abschluss in Volkswirtschaft von der University of Sussex in England sowie über einen MBA der University of New York, USA. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst für die Uno-Welternährungsorganisation FAO in Rom, danach wechselte er 1982 zur Deutschen Bank, wo er verschiedene Funktionen im Investmentbanking wahrnahm. Ab 1996 leitete er sechs Jahre lang das internationale Private Banking der Deutschen Bank von Genf aus. Seit September 2016 ist er zudem Präsident der Schweizerischen Bankiervereinigung und hat weitere Mandate inne, unter anderem als Präsidiumsmitglied der Economiesuisse, dem Dachverband der Schweizer Wirtschaft.