Die Nationalbank hat den Leitzins in diesem Jahr zum vierten Mal in Serie gesenkt. Langsam aber sicher würden ihr die Mittel ausgehen und Negativzinsen unausweichlich, sagt Thomas Rühl, der Investmentchef der Schwyzer Kantonalbank.
Thomas Rühl, die Schweizerische Nationalbank (SNB) hat soeben den Leitzins erneut gesenkt, die Richtung ist keine Überraschung, doch mit 0,50 Prozentpunkten fällt die Senkung höher aus als im September. Was haben Sie erwartet?
Dass die SNB den Leitzins im Dezember um 0,50 Prozentpunkte senkt, hat uns überrascht. Sie will damit wohl deutlich machen, dass sie gewillt ist, Deflationsgefahren entschieden entgegenzutreten. Sie prescht vor, hat ihren Spielraum für weitere Zinssenkungen jedoch eingeschränkt.
Der Leitzins liegt jetzt bei 0,50 Prozent. Werden wir bald wieder Negativzinsen haben?
Die aktuelle Lage deutet effektiv darauf hin, dass Negativzinsen in der Schweiz bald wieder ein Thema werden könnten. Geht es so weiter, wird der SNB-Leitzins Ende 2025 erneut die Nulllinie unterschreiten. Allerdings erwarten wir nicht, dass dies automatisch zu negativen Zinsen auf Privatkonten führen wird. Ich gehe davon aus, dass die SNB Massnahmen ergreifen wird, um dies zu verhindern.
Welche?
Die Absicht hinter den Negativzinsen ist, den Franken vor allem für grössere und ausländische Investoren unattraktiv zu machen. In der langen Negativzinsphase von 2015 bis 2022 hat die SNB daher Freibeträge auf ihren Girokonten gewährt. An den Kleinsparern sind die Negativzinsen dadurch zum Grossteil vorbeigegangen. Solche Regeln kann die SNB auch künftig wieder anwenden.
Was sind die Hauptgründe für diese Einschätzung?
Es gibt mehrere Faktoren, die dafür sprechen. Die Inflation ist in der Schweiz bereits seit Sommer 2023 kein Thema mehr. Seit Juni 2023 liegt sie konstant unter der von der SNB definierten Preisstabilitätsgrenze von 2 Prozent und seit August 2024 sogar deutlich unter 1 Prozent.
Die Importpreise sinken, unter anderem durch den starken Franken und tiefere Energiepreise. Die Importpreise sind ein wichtiger Faktor, dass die Inflation weiter sinkt.
«Der Franken bleibt ein sicherer Hafen.»
Der Franken ist im Moment stark, aus unserer Sicht aber nicht überbewertet. Die wechselkursbedingten Deflationsrisiken sind jedoch angestiegen. Die schwache Konjunktur in unseren Nachbarländern lässt bis auf Weiteres keinen stärkeren Euro erwarten.
Das heisst, Negativzinsen werden unausweichlich, weil der SNB die Mittel ausgehen?
Das kann ich unterschreiben. Die bisherigen vier Leitzinssenkungen der SNB in diesem Jahr haben den Aussenwert des Frankens zwar geschwächt. Trotzdem bleibt der Franken ein sicherer Hafen, vor allem angesichts geopolitischer Unsicherheiten und wirtschaftlicher Schwächen in der Eurozone.
Welche Entwicklungen auf globaler Ebene könnten die Entscheidungen der SNB beeinflussen?
Die Europäische Zentralbank (EZB) und die US-Notenbank (Fed) werden in den kommenden Monaten ihre Zinsen wohl weiter senken, davon ist auszugehen: Die hohe Inflation ist weitgehend überwunden, die in der Eurozone erwarteten Zinssenkungen sollten der Konjunkturschwäche entgegenwirken. Dies könnte auch den Euro weiter schwächen, während der Franken als Safe-Haven-Währung zusätzliche Attraktivität gewinnt.
Ein weiterer Aspekt sind die hohen Staatsschulden. Sowohl in der Eurozone als auch in den USA könnten diese das Vertrauen in den Euro und den Dollar belasten, was wiederum den Franken stärkt.
Gibt es auch Entwicklungen, die gegen ein Szenario von Negativzinsen sprechen?
Ja, aber wir halten diese für weniger wahrscheinlich. Eine schnelle Erholung der Konjunktur in der Eurozone könnte den Euro stärken, ebenso wie anhaltend hohe Zinsen in den USA den Dollar stützen würden.
«Für die Wirtschaft könnten Negativzinsen die Investitionstätigkeit stimulieren.»
Ein starker Anstieg der Inflation in der Schweiz würde das Szenario von Negativzinsen ebenfalls unwahrscheinlicher machen. Doch die derzeitigen Entwicklungen sprechen klar für eine weitere Lockerung der SNB-Geldpolitik.
Möglich wären auch Währungsinterventionen. Für wie wahrscheinlich halten Sie solche?
Kurzfristig wird die SNB wohl vor allem durch Zinssenkungen agieren, um die Zinsdifferenzen zu anderen Leitwährungen zu stabilisieren und Deflationsgefahren zu vermeiden. Währungsinterventionen sind eine mögliche Option, allerdings scheinen sie aufgrund der ohnehin schon hohen Bilanzsumme der SNB momentan weniger attraktiv zu sein.
Welche Auswirkungen hätten Negativzinsen auf die Wirtschaft und die Finanzbranche?
Für die Wirtschaft könnten Negativzinsen einerseits die Investitionstätigkeit und die Kreditnachfrage stimulieren. Andererseits steigt der Druck auf die Margen der Banken. Und letztlich verschärft sich der Anlagenotstand der Vorsorgewerke. Sie müssen dann höhere Risiken eingehen und statt in Obligationen vermehrt in Aktien, Immobilien und Fremdwährungen anlegen. Im Retail-Bereich erwarten wir jedoch wie schon erwähnt, dass die SNB Massnahmen ergreift, um die Auswirkungen von Negativzinsen für Sparer zu minimieren.
Thomas Rühl ist Chief Investment Officer (CIO) bei der Schwyzer Kantonalbank. Davor war er bei der Schweizerischen Bankiervereinigung sowie der Credit Suisse.