Im Ukraine-Krieg wird seit neuestem auch nach der Waffe der Enteignung gerufen. Wer sich den Besitz des andern aneignet, stellt sich gegen die Prämisse des «Rule of Law» – und riskiert, dass die Auswirkungen der jetzigen Krise viel weiter und breiter nachwirken.
Wo vor einem Monat noch normaler Welthandel betrieben wurde, ist nun nichts mehr wie es war – zerschlagen von der russischen Führung, wie sie auch das Land Ukraine in Schutt und Asche bombt.
Abgesehen von den Rohstoffen wie Öl und Gas ist der Handel zwischen Ost und West mehrheitlich zum Erliegen gekommen. Dies wirft den Welthandel zurück in eine Zeit von vor dem Fall der Berliner Mauer.
Faktische Enteignungen
Mit der Sanktionierung von Personen der wirtschaftlichen Elite Russlands begann auch das Einfrieren von Vermögenswerten. In der vergangenen Woche knöpfte sich die Justiz den physischen Besitz dieser Oligarchen vor, zum Beispiel ihre Superjachten.
In Grossbritannien wird mittlerweile auch von höchster Stelle die Unterbringung von Flüchtlingen in den Anwesen reicher Russen thematisiert, mithin eine faktische Enteignung.
Investitionen sind nicht mehr sicher
Die Antwort Russlands auf die unerwartet klaren Sanktionen, die auch von der Schweiz mitgetragen werden, lässt mehrheitlich noch auf sich warten. Dies mag daran liegen, dass Russland das Geld des Westens braucht, um überhaupt Krieg führen zu können. Aber auch daran, dass der Kreml vermutlich durch die Heftigkeit der Antwort und den Zusammenhalt der EU und der westlichen Welt überrascht wurde. Dass sich die chronisch zerstrittene EU auf eine kraftvolle Antwort besinnen könnte, war nicht wirklich vorauszusehen.
Was bislang auffiel an der Antwort der Russen, ist deren Drohung einer Verstaatlichung von westlichen Produktionsstäten in Russland. Damit einher ginge faktisch die Aufhebung des Investitionsschutzabkommens, das beispielsweise zwischen der Schweiz und Russland seit mehr als drei Jahrzehnten in Kraft ist.
Wer sich des andern Eigentum aneignet, stellt sich gegen die Prämisse des «Rule of Law» und riskiert, dass die Auswirkungen der jetzigen, blutigen Krise auch viel weiter hinaus noch nachwirken dürfte.
Suche nach alternativen Standorten
Es ist sicherlich noch zu früh, um genauer einschätzen zu können, wohin die Wirtschaft steuert. Das hängt mit dem weiteren Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzung zusammen, mit den damit verbundenen Auswirkungen auf die Führung Russlands, aber auch auf die künftige globale Ordnung. Handelsexperten sind denn auch mehrheitlich zurückhaltend in ihren Prognosen.
Drei Entwicklungen zeichnen sich aber deutlich ab und sind logisch erklärbar durch den Bruch zwischen dem Westen und Osten. Der erste Aspekt betrifft die unmittelbare Frage der Produktions-Standorte.
Einbussen abfedern
Der abrupte Bruch mit Russland und die kriegerische Verwüstung der Ukraine bringt gewisse Industrien in Zugzwang. Switzerland Global Enterprise, die Organisation für Exportförderung und Standortpromotion, erklärte gegenüber finews.ch, dass für viele Schweizer Firmen Russland von der Prioritätenliste verschwinden werde. Die Firmen versuchten, möglichst rasch andere Märkte zu erschliessen, um die Einbussen abzufedern.
Solange das Sanktionsregime gegen Russland besteht – und dies dürfte letztlich vom Fortbestehen des jetzigen russischen Regimes abhängen –, und solange der westliche Investor sich seines Eigentums nicht sicher ist, dürfte die Rückkehr zum Status ante quo eine Illusion bleiben.
Grössere Abstriche bei Menschenrechten
Der zweite Punkt bezieht sich auf die Rohstoff-Frage. Der Westen arbeitet mit Hochdruck daran, die Abhängigkeit von Russlands Öl, Gas und weiteren Rohstoffen wie Kohle und Uran zu verringern. Dieses Bemühen geht sogar soweit, dass die USA selbst mit Venezuela wieder Gespräche führen, wie auch finews.ch schon festgestellt hat.
Mit dieser strategischen Entscheidung geht also eine politische einher, indem man gewillt ist, bei Menschenrechten grössere Abstriche zu machen (Venezuela, Saudi-Arabien), aber auch die Abkehr von der Prämisse des Preisdiktats. Selbst wenn das russische Gas uns am billigsten kommt, wollen wir es aus politisch-strategischen Gründen nicht mehr.
Fortschreitende Deglobalisierung
Der dritte Punkt schliesslich steht auch im Zusammenhang mit dem Narrativ, das sich während der Pandemie herausgebildet hat. Der Krieg in der Ukraine hat einmal mehr zu Unterbrüchen der Lieferketten geführt (siehe Produktions-Ausfälle in der Automobil-Industrie), und dies schüttelt die Märkte durch.
«Der Ukraine-Konflikt verschärft den Prozess fortschreitender Deglobalisierung und schafft eine radikal neue geoökonomische Wirklichkeit», erklärte Heinz-Werner Rapp, Chief Investment Officer von Feri, einem deutschen Investmenthaus.
Risiko einer Stagflation
Die Globalisierung hat der Welt – und vor allem den Konsumentinnen und Konsumenten im Westen – sehr angenehme Zeiten mit dauerhaft tiefen Inflationszahlen beschert. Die Deglobalisierung geht mit grosser Wahrscheinlichkeit mit höheren Preisen und tieferen Wachstumsraten einher und birgt gemäss Rapp das Risiko einer Stagflation.
Natürlich hängt da viel von der Positionierung Chinas ab und auch vom weiteren Pandemiegeschehen, das gerade im Fernen Osten nach wie vor mit partiellen Lockdowns einhergeht.
Herausforderung für Aktienmärkte
Alles in allem sind die Risiken für die Märkte markant grösser geworden. Etwelche Hoffnungen, dass wir nach der Pandemie endlich wieder zurück zu einer Normalität finden, wurden weggefegt. «Das Gesamtszenario verändert sich derzeit radikal», so die Beurteilung Rapps, und er schiebt nach, dass die Perspektiven gerade für die Aktienmärkte extrem herausfordernd seien.